Mitte August war es endlich so weit. Acht Eifelindianer trafen sich in Kötschach, Kärnten, um gemeinsam durch die Karnischen Berge zu streifen. Susanne, Heidi, Günter, Alois reisten mit der Bahn aus der Eifel an, Olga kam von ihrer Tochter aus Innsbruck, Rolf und Walter flogen mit dessen Grumman Cheetah bis Salzburg, wo wir landeten und auf den Zug umstiegen. Die Alpenhauptkette hatte sich so weit mit Wolken zugezogen, dass eine Überquerung mit dem kleinen Flugzeug zu riskant gewesen wäre.
Sabine, die altbewährte und junggebliebene Wanderführerin, erwartete uns im gemütlichen Hotel Erlenhof in Kötschach. Sie hatte gerade eine wunderschöne Alpenüberquerung hinter sich und war bestens akklimatisiert.
Beim Abendessen wurden alte und neue Freundschaften gefeiert und die Basis für eine harmonische Wanderw0che gelegt.
Nach einem reichhaltigem Frühstücksbuffet starteten wir in einen sonnigen Tag. Der Taxifahrer Peter fuhr uns zum etwa 15 Kilometer entfernten Plöckenpass, wo unsere Wanderung auf den Berg Cellon begann. Über einen steilen Bergpfad erreichten wir den Cellonstollen, einen von den Soldaten im Ersten Weltkrieg in denFels geschlagenen Tunnel, der im Inneren des Berges nach oben führte.
Dieser Stollen war als leichter Klettersteig ausgebaut, so dass wir unsere Ausrüstung am Eingang anlegten. Klettergurt mit Karabinern, Helm und Stirnlampe. Aber wo zum Geier war meine Stirnlampe? Trotz gründlicher Suche blieb sie verschwunden. Zum Glück leuchteten die Kollegen und gelegentliche Lichtschächte erhellten die feuchte Felsröhre.
Nach dem Tunnel kraxelten wir im steilen Gelände dem Gipfel entgegen. Die Sonne brannte erbarmungslos und der Schweiß floss in Strömen, doch um die Mittagszeit erreichten wir glücklich das Gipfelkreuz in 2224 Metern Höhe. Dieser Berg war zusammen mit dem gegenüberliegenden kleinen Pal im Ersten Weltkrieg von strategischer Bedeutung, da dieser die Passstraße zwischen Österreich und Italien beherrschte.
Auch der Abstieg in der heißen Nachmittagssonne war kräftezehrend. Unten am Pass suchten wir den Kiosk auf und löschten den Durst unserer brennenden Kehlen nach dem Motto „Berg rauf – Bier runter“. Das Taxi brachte uns zurück ins Hotel nach Kötschach. Nach dem Abendessen unterhielten wir uns angeregt und Susanne packte ihr Strickzeug aus und strickte an einem hellblauen Schal, eine Tätigkeit, die sie jeden Abend fortführte.
Wir hatten heute 1000 Höhenmeter rauf und 1000 runter zurückgelegt.
Noch einmal genossen wir das gute Frühstücksbuffet des Hotels. Dann brachte uns Peter, der Taxifahrer, zur Unteren Valentinsalm, dem Start unserer Wanderung. Heidi hatte sich bei der Cellonbesteigung einen Muskelkrampf zugezogen, so dass sie heute einen kürzeren Weg zur Marinellihütte nahm als die restliche Gruppe.
Bei schönstem Sonnenschein wanderten wir bergauf. Unterwegs erzählte uns die Imkerin Susanne von ihrem Bienenvölkchen, Königinnen, Arbeitsbienen und dem traurigen Schicksal der Drohnen nach dem Hochzeitsflug. 1000 Höhenmetweiter kamen wir zum Valentinstörl, einem Joch. Von hier aus sahen wir bereits das glitzernde Juwel des Wolayer Sees, eingerahmt von hellen Dolomitfelsen.
Günter, der Schwager von Heidi, machte sich etwas Sorgen um seine Schwägerin, die den Weg alleine wanderte.
Dort unten am Strand angekommen, sprangen Rolf und ich in das frische, türkisblaue Bergwasser. Doch auch die mutige Olga war nicht zimperlich. Sie tauchte elegant ihren großen Zeh ins kalte Wasser und dann den Rest. Wie ein junger Delfin schwamm, tauchte und planschte sie mindestens doppelt so lange wie Rolf und ich. Damit hatte sie ihren männlichen Bergkameraden ganz souverän die Show gestohlen. Nun hatten wir unsere erhitzten Körper abgekühlt und der See war um drei Grad wärmer geworden, so dass wir unsere Wanderung fortsetzen konnten.
Bald erreichten wir die Schlüsselstelle des heutigen Tages, eine steile Felspassage namens Sentiero Spinotti. Mir wurde es erst mal etwas flau im Magen, als ich die dunkle, im unteren Bereich fast senkrechte Wand sah. Zum Glück war sie drahtseilversichert und wir konnten uns problemlos nach oben hangeln. Nach wenigen Zügen fühlte ich mich wieder sicher. Über eine stählerne Leiter kraxelten wir wie Ameisen hoch und wir hatten die steilste Passage hinter uns. Weiter verlief der Pfad im Fels und mündete dann in grüne Bergwiesen. Bald darauf kam der höchste Berg, die Hohe Warte mit ihren wildgezackten Trabanten in Sicht. Nachmittags erreichten wir, gesättigt mit unvergesslichen Eindrücken, die Marinelli-Hütte, wo wir auf der Sonnenterrasse erst mal Heidi trafen und dann den größten Durst löschten. Nach dem Abendessen etablierte sich die Tradition in der Gruppe, eine Runde Schnaps zu trinken. Wir waren heute 1400 Meter hoch und 540 Meter abgestiegen.
Entgegen dem Wetterbericht brach ein strahlend schöner Sonnentag an. Wir konnten nach dem minimalistischen italienischen Frühstück zur Hohen Warte aufbrechen, dem höchsten Gipfel der Karnischen Alpen.
Gemeinsam wanderten wir über grüne Hänge, felsige Passagen, kamen in ein ausgedehntes Schotterkar und kraxelten dann im Gipfelbereich. Nach etwa drei Stunden erreichten wir den höchsten Punkt mit 2768 Metern. Hier stand die Friedensglocke, die an die grausame Zeit des Ersten Weltkrieges erinnerte. Wir brachten alle zusammen die Glocke zum Läuten und konnten die Gedanken an die aktuelle politische Großwetterlage nicht ganz fernhalten.
Am Gipfelkreuz, das über einen kurzen Grat erreichbar war, machten wir Mittagsrast. Mittlerweile waren ein paar Wolken aufgezogen, die den Blick auf das umliegende Bergpanorama immer nur stellenweise freigaben wie ein Regisseur, der sein Publikum möglichst lange in Spannung halten möchte.
Wir kletterten und wanderten denselben Weg zurück. Im schrappeligen Kar rutschte Rolf aus und holte sich einen leichten Lackschaden am Ellenbogen, der aber seinem eifelmännisch-robusten Aussehen in keiner Weise schadete.
Bei einer Rast stellten Susanne und Alois fest, dass sie den gleichen moselfränkischen Dialekt sprechen. Sie hatten eine gemeinsame Geheimsprache entdeckt.
Müde, aber glücklich erreichten wir zum zweiten Mal die Refugio Martinelli. Da sehr viele Übernachtungsgäste ankamen, mussten wir unseren Tisch nach dem Essen und dem Schnaps verlassen und uns in unsere Zimmer zurückziehen. Wir setzten uns auf die Betten, machten es uns gemütlich und erzählten uns Geschichten aus unserer bewegten Vergangenheit. Susannes hellblauer Schal wurde immer größer.
Heute hatten wir circa 500 Höhenmeter rauf und runter zurückgelegt.
Heute stand die Königsetappe auf dem Plan mit dem Ziel der Promosio-Alm. Nach einem kargen Frühstück stiegen wir von der Hütte ab, durchquerten das Felsenloch Scaletta und erreichten den Plöckenpass. Sabine hatte am Abend zuvor ein Taxi bestellt, das nun einen Teil unseres Gepäcks zur Alm brachte.
Nun ging es im warmen Sonnenschein erst mal steil aufwärts auf den kleinen Pal. Da dieser Berg im Ersten Weltkrieg besonders schwer umkämpft war, kamen wir an zahlreichen Schützengräben, Bunkern und Wehranlagen vorbei. Hier lagen sich einst österreichische Kaiserjäger und italienische Alpinisoldaten auf Granatwurflänge gegenüber, um sich gegenseitig zu vernichten.
Am Gipfelkreuz rasteten wir kurz und überschritten den Berg in Richtung Osten. Die vielen Wanderer, die wir am Kleinen Pal gesehen hatten, ließen wir nun zurück. Weiter marschierten wir zum Freikofel, den wir ebenfalls überschritten. Auch hier gab es reichlich Relikte aus dem Weltkrieg. Nach diesem Gipfel wurde es einsam und auch die kriegerischen Bauwerke wurden weniger. Unser Weg führte durch Bergwald, Wiesen, an einer Alm vorbei. Hier stand ein Brunnentrog, an dem ich mit Kopf und Oberkörper tief ins kalte Wasser tauchte, um meine Maschine wieder abzukühlen. Bald darauf, es war etwa 15.30 Uhr, kamen wir zu einem Wegweiser, der unser Ziel, die Promosio-Alm, in drei Stunden Wegstrecke ankündigte. „Wenn wir um fünf Uhr noch nicht da sind, gebe ich eine Runde heute Abend aus!“, erklärte Sabine. Wir ahnten noch nicht, was auf uns wartete. Es folgte eine endlos lange bergauf-Strecke, wobei die Sonne auf uns brannte. Schließlich erreichten wir das etwa 2000 Meter hohe Joch, es war inzwischen 17.00 Uhr geworden. Von hier aus sahen wir in das jenseitige Tal, in dem unsere Alm irgendwo liegen musste.
Mit neuem Mut stiegen wir ab und erreichten schließlich eine paradiesisch schön gelegene, einfache Almhütte. Dahinter lag in der Abendsonne ein glitzernder See, eingerahmt von glattgeschliffenen, kalkweißen Felswänden. Ein Zelt stand am Seeufer und Kletterer übten an dem Dolomitfels. Es stellte sich jedoch heraus, dass diese Idylle noch nicht unser ersehntes Tagesziel war, sondern die Casera Alta Promosio.
Sabine führte uns noch Stück weiter ins Tal hinab, bis wir endlich zur bewirtschafteten Promosio-Alm kamen. Diese erreichten wir um 18.30 Uhr; müde, durstig, aber gesättigt mit starken Eindrücken und farbigen Bildern.
Auch heute hatte es sich wieder gezeigt, dass unser gesamtes Frauenteam ausgesprochen stark ist.
Wir bezogen ein kleines Häuschen an der Alm. In diesem gemütlichen Feriendomizil schürten wir den Ofen an und duschten. Nach dem Abendessen ließen wir den Tag mit einem Zirbenschnaps in unserer privaten Hütte ausklingen. Susannes hellblauer Schal wurde immer größer.
Heute hatten wir lässige 1400 Meter hoch und 1900 Meter abwärts zurückgelegt, zwei Berge bestiegen bei insgesamt mehr als 10 Stunden Gehzeit und über 20 Kilometer Weglänge.
Der Morgen zeigte sich bewölkt, feucht und leicht vernebelt. So beschlossen wir, den direkten Weg zu nehmen und den Hohen Trieb, einen nicht ganz einfachen Berg, der auf unserem Weg lag, auszulassen.
Der Pfad führte am Berghang entlang, zwischen Wiesen und Wäldern. Irgendwann erreichten wir eine unbewirtschaftete Alm, wo wir eine Rast einlegten. Einige Ziegen auf der nahen Weide hatten uns beobachtet und kamen neugierig auf uns zu, um ein paar kulinarische Leckerbissen abzustauben. Dann entdeckten wir ein klassisch-alpines doppelsitziges Freilichtklo an der Rückseite des Stadels. Und auch Murmeltiere waren zahlreich zu sehen.
Mittags kamen wir an der Zollner Seehütte an. So leisteten wir uns den Luxus einer Mittagsmahlzeit. Die sympathische Hüttenwirtin sächselte leicht. Auf unsere Nachfrage hin erzählte sie, dass sie ursprünglich aus Leipzig kam. „Aber als ich vor etlichen Jahren den netten Hüttenwirt hier kennenlernte, habe ich ihn mir sofort gekrallt und mein altes Leben gegen das der Hüttenwirtin eingetauscht,“ erzählte sie. Als wir sie auch noch für das gute Essen lobten, meinte sie, “Ist ja auch mit Liebe gemacht“.
Nachmittags wanderten wir dann über den naheliegenden Geo-Trail. Der führte über Hügel mit Alpenrosen, gelegentlich sahen wir einen windschiefen Baum im Nebel, dann ein sumpfiges Hochmoor mit Wollgras. Es herrschte e eine mystische Stimmung.
Hinweistafeln beschrieben die Entstehung der Landschaft. Vor 300 Millionen Jahren war hier ein flaches, tropisches Meer. Aus den Ablagerungen am Meeresboden entstand im Laufe der Jahrmillionen der Schiefer, aus den Korallenbänken der Dolomitfels. Versteinerungen wie die Seelilien beweisen, dass diese Landschaft einst im Meer lag, bevor sie von tektonischen Kräften hochgehoben und zu den Alpen gefaltet wurde.
Anschließend besuchten wir noch eine schöne Kapelle in Holzbauweise, die neben der Zollner Seehütte stand. Ein kräftiger Regenschauer trieb uns dann aber schnell zurück in unsere gemütliche Hütte.
Der geneigte Leser wird sicher erraten, womit sich Susanne nach dem Abendessen beschäftigte.
Heute waren es 600 Höhenmeter rauf und 380 Meter runter, die wir gewandert waren.
Unser letzter Tag in den Bergen begann mit einem langen Abstieg. Es regnete und Nebelschwaden zogen durch den Bergwald. Auf schmalem Pfad über rutschige Steine ging es abwärts, immer wieder mussten Bäche überquert werden. Und dann entdeckten wir Salamander, die das feuchte Wetter für einen Ausflug nutzten. Immer wieder trafen wir die schwarzgelben Lurche.
Als wir unten im Tal ankamen, begann es zu gewittern, was uns aber nicht aufhielt. Die letzten Kilometer wanderten wir den Fluss Gail entlang, bis wir endlich in Kötschach und unserem Hotel Erlenhof ankamen.
Nachmittags besuchte ein Teil unserer Gruppe das örtliche Museum zum Ersten Weltkrieg. Zahlreiche alte Fotografien zeigten die Kriegsereignisse zwischen Österreich-Ungarn und Italien in den Bergen zwischen Ortler und Slowenien. Messer, Dolche, Gewehre, Handgranaten, Maschinengewehre und auch Kanonen und Haubitzen waren ausgestellt. Es drängt sich die Frage auf, wie Menschen, die in einer solch märchenhaft schönen Landschaft leben, arbeiten oder in Freundschaft zusammen wandern, sich gegenseitig mit solch ungeheuren Grausamkeiten bekämpften.
Abends im Hotel nahmen wir das letzte gemeinsame Abendessen zu uns. Der Abschied lag in der Luft.
Nach dem Frühstück brachen wir wieder in Richtung Heimat auf. Mit der Bahn ging es nach Norden, Olga fuhr zu ihrer Tochter nach Innsbruck, Rolf und ich stiegen in Salzburg aus, um mit dem Flieger nach Aachen zurückzukehren.
Auch diese Tour war wieder ein großartiges Erlebnis. Dank Sabines ausgezeichneter Organisation, Kompetenz und ihrem Einfühlungsvermögen wird die Tour uns allen als unvergessliches Erlebnis in Erinnerung bleiben. Wir hatten wieder Kraft getankt für die nächste Zeit.