Allmählich tröpfelten unsere Familien in Langenscheid, einem Höhenort in der Nähe von Diez, ein. Nicht nur die Kinder stiegen mit erwartungsvollen Blicken endlich aus den Autos. Auch die Anwohner des Dörfchens, die unauffällig die Straße vom ersten Herbstlaub befreiten, staunten nicht schlecht, als sich 13 Kinder und 11 Erwachsene mit Rucksack und Regenjacke startklar machten.
Aber da war vorher noch etwas zu sortieren. Wir wollten uns ja an der Kirche treffen, die sich jedoch als Kapelle entpuppte. Und die ohnehin überschaubare Parkfläche bestand zu einem guten Teil aus getarnter Garagenzufahrt, wie uns die betroffene, aber freundliche Anwohnerin mitteilte. Während also die Erwachsenen millimetergenau ihre Fahrzeuge platzsparend stapelten, blieb für unsere kletterfreudigen Kinder anscheinend genügend Zeit, um miteinander warm zu werden. Denn wir pflückten sie schließlich zügig von den Bäumen betreffender Garageneinfahrt und machten uns aus dem Wander-Staub.
Erster Halt war eine Schutzhütte am Steilhang zur Lahn, welche einen ersten Blick auf das herbstwaldumgebene Flüsschen freigab. Auf dem Pfad hinunter ins Tal wartete eine kleine Überraschung an einem Baum auf uns, der oben von der Böschung aus seinen Stamm quer über den Weg streckte. Ein kleines Podest aus Brettern und Baumstümpfen bot an seinem unteren Ende eine Startplattform. Das erste mutige Kind krabbelte auf die aus Ästen bestehende Sitz“fläche“ dieser Riesenschaukel, deren Seil hoch oben in einer Astgabel umgelenkt war. So ergab sich eine Pendelhöhe von etwa 5-6 Metern. Etliche Kinder flogen nun mit staunenden Gesichtern und Rufen immer wieder hoch oben in den Ästen weit schwingend hin und her.
Auch wenn wir bei mildem Wetter unterwegs waren und es an diesem Fleck noch länger hätten aushalten können, war die Zeit schon fortgeschritten und für den Nachmittag Regen angekündigt. Daher zogen wir unter Protest der Kinder weiter bis zu einem nächsten typischen Merkmal dieser Gegend. Die Region ist bekannt für ihre Mineralwässer. Und so wollten wir uns einen Brunnen, der für Besucher zur freien Kostprobe offen stand, aufsuchen. Der Weg dorthin war von alten Kastanienbäumen gesäumt, deren Früchte im Moment zu tausenden den Boden bedeckten. Ein leichter Wind wehte.
Ich dachte zuerst, einer unserer Väter knie aus Scherz wie ein Betender mit der Stirn auf dem Boden vor dem Eingang. Aber nein. Einer der heimtückischen knorrigen Kameraden hatte mit einem seiner Geschosse mitten auf den Kopf des nichts ahnenden Spaziergängers gezielt. Der arme Kerl wusste zuerst nicht, ob ihn vielleicht ein Stein getroffen hätte. Mag es der Steinschlag in den Bergen sein, so gibt es hierzulande beim harmlosen Wandern ganz unerwartete Gefahren.
Nun aber nichts wie zum Brunnen, denn das Spazieren, Schaukeln und der Schrecken haben durstig gemacht und wir wollten doch eine Kostprobe des Naturwässerchens nehmen: Sauerwasser. Passend dazu verzogen sich die Gesichter der meisten Probanden und bevorzugten den baldigen Weitermarsch am Bachlauf eines idyllischen Lahn-Seitentals entlang.
Nach einer Weile lud der Wald zu einer ausgedehnteren Pause ein. Das Gelände war durch das noch dichte Laub windgeschützt und bot große Spielfläche. Wer mit seiner Brotzeit fertig war, begann kleine Kunstobjekte aus allem Möglichen zu bauen, was Fantasie und Wald hergaben. Ein dicker Stamm bildete einen Schiffsrumpf , eine Feder den Haarschmuck einer Squaw, die zuvor gesammelten Kastanien dienten als Köpfe für kleine Waldgeister, moosbewachsene Äste gaben einer riesigen Kreuzspinne behaarte Beine.
Vertieft in die Waldarbeit begann es in den Baumkronen intensiver zu rauschen. Uns erreichten die ersten Regentropfen. Trotzdem gab es noch eine Vernissage, bei der uns die kleinen und großen Künstler ihre Objekte zeigten. Danach legte die fröhliche Truppe die letzten Meter zum Ausgangspunkt zurück und machte sich gespannt auf den Weg zur Schlossjugendherberge in Diez.
Als wir mit dem Auto in Diez einliefen, grüßte uns die Jugendherberge von ihrem erhabenen Platz.
Im Schloss verteilten sich unsere Leute auf verwinkelten Etagen, Zwischenetagen, kleinen, kuscheligen Zimmerchen, die sich auf gerade personenbreiten Fluren gegenüber lagen. Unser kastaniengeplagter Vater namens Frank (der an diesem Tag Geburtstag hatte!) wusste zu erzählen, dass im Schloss früher ein Gefängnis untergebracht war und die Zellen zu Zimmern umfunktioniert worden sind. Die Unterbringung war sehr feudal: jedes Zimmer mit Dusche und WC, die Mauern so dick, dass man durch diese Stimmen aus den Nachbarräumen absolut nicht wahrnehmen konnte, schlosswürdige Speisesäle, herzliches Personal, reichhaltiges Frühstück, leckere warme Mahlzeiten – und reichlich Winkel zum Versteckenspielen.
Abends planten wir gemeinsam die nächsten beiden Tage. Für Sonntag sollten es ein Lahnaussichtswanderweg im Hang des Flusstales werden inklusive Burgenblick, mit Glück auch einer Burgerkundung. Für den letzten Tag suchten wir uns den Walderlebnispfad in der Nähe der Burgruine Ardeck aus.
Der Sonntag empfing uns schon beim ausgiebigen Frühstück mit blauem Himmel pur und Sonnenschein. Aber im Vergleich zum Vortag war es eine gute Ecke kälter geworden. Wir stiegen ab Balduinstein in den Lahnhöhenweg ein, einem wildromantischen Pfad im Hang oberhalb der Lahn. Ab hier begannen wir Material zu sammeln: Rinde, Seile aus Binsen oder Unterholzresten, bunte Blätter, Kastanien, Äste, Stöcke. Damit wollten wir im Laufe der Tour in den Pausen kleine Boote jeglicher Art basteln, um sie abends zur Blauen Stunde mit Teelichtern versehen auf der Lahn zu Wasser lassen zu können.
Von Balduinstein her kommend hatten wir nach Westen wandernd ein Stück Lahn erwischt, auf dem der Fluss eine Schleife macht. Die Eisenbahn wird an dieser Stelle vom Berg verschluckt und an der anderen Seite wieder ausgespuckt; genauso ein Teil des Wassers, welches man zwecks Energiegewinnung ableitet.
Wir überwanden zwischendurch eine kleine Höhe und tauchten aus dem noch recht kalten Wald auf in die wärmenden Sonnenstrahlen der Hochfläche. Dabei ragte in einiger Entfernung die stattliche Schaumburg aus dem durch die Sonne bedingten schwachen Nebel wahrlich nebulös hinter unserem Rücken empor. Durch ihre dunkle Fassade und die Fenster wie Augen in den Türmen schien sie grimmig und bedrohlich unseren Weg zu verfolgen.
Wir folgten dem Pfad zum „Gabelstein“, von dem aus man eine herrliche Aussicht über die Lahn genießen konnte. Ein idealer Platz für eine ausgiebige Pause, in der für die gewünschten Wasserfahrzeuge neben der Pflege des Magens weiter gesammelt und geschnitzt werden konnte. Dabei verwöhnte uns Frank mit Geburtstagskuchen, den er bis hierher tapfer selbst gebuckelt hatte. Nach dem Blick über das Lahntal stand nun der Besuch der Schaumburg auf dem Plan. Schließlich hatten wir diese Burg bereits am vorangegangenen Tag von Langenscheid aus erblickt, und auch auf der jetzigen Tour hatte sie uns – schon etwas näher gerückt – begleitet. Über Felder und Pfade gelangten wir schließlich zum Eingang. Wir entrichteten einen kleinen Obulus am schattig positionierten, winzigen Kassenhäuschen. Der Mensch darin war wirklich nicht zu beneiden. Insgesamt gesehen muss man leider gestehen, dass sich das riesige Gebäude in einem erbärmlich traurigen Zustand befindet. Man könnte die Burg daher nicht nur aufgrund der Fassade aus schwarzem Basalt und dunkler Rinde zur Düsterburg erklären. Die inneren Räumlichkeiten zeugen von hilfloser Vernachlässigung. Man bräuchte schon ein paar zehn Millionen. Vielleicht um eine Jugendherberge daraus zu machen?
Für unsere Kinder war es dennoch ein kleines Abenteuer durch die Gänge und verwinkelten Gemächer zu streifen. Außerdem lag der geräumige Hof der Burg in der Sonne. Wir ließen uns auf den Bänken nieder, genossen die wärmenden Strahlen und bauten weiter an unseren Booten. Der Weg zum Auto bot Kurzweil durch das Finden einiger Geocaches.
Den späten Nachmittag verbrachte jeder nach Lust und Laune; so z.B. um einen Wasserfahrzeugtest am Bootsanleger zu machen und dem eigenen Schiff den dekorativen oder technisch letzten Schliff zu verpassen.
Nach dem Abendessen kullerten wir mit warmen und satten Bäuchen runter an die Lahn. Die Boote waren fix und fertig mit Teelichtern und bunten Blättersegeln bestückt. Das Wetter meinte es gut mit uns. Es wehte kaum ein Lüftchen. Die Teelichter blieben an. Auch für einen überlangen Schiffsrettungsrückholstock war gesorgt. Manch ein Kind hatte sein Bötchen an die Leine genommen, um es nicht an den Fluss zu verlieren, sondern anschließend mit nach Hause nehmen zu können. Das ein oder andere Boot machte sich – einmal Freiheit gewonnen – selbstständig. Entweder wie es sich gehört lahnabwärts bis das Licht nicht mehr zu sehen war. Andere Boote klammerten sich ans Ufer oder verirrten sich mit brennender Fracht unter die Hohlräume der anliegenden Tretboote. Das führte zu einiger Aufregung unter den Kindern.
Dunkelheit, Kälte, durchnässte bzw. verlorene Schiffe trieben uns schließlich wieder an Bord unserer warmen Unterkunft. Es blieb noch etwas Zeit, um auf den Burggängen umherzugeistern oder in gemeinsamer Runde ein Spiel zu spielen.
Der leider letzte Tag unserer Herbsttour brach an. Es war noch kälter geworden. Zudem stand feuchter Nebel in der Luft und schnitt jegliche Sonnenstrahlen ab. Wie gemeinsam beschlossen setzte sich unsere Gruppe für eine kurze Runde Richtung Walderlebnispfad in Bewegung. Holzgeschnitzte Eulen, Vögel, Wildschweine und Pilze wirkten wir Fabelwesen im nebligen Buchenwald. Der kleine Weg war interessant gestaltet mitsamt Barfußpfad, Baumtelefon, Waldxylophon, Sprunggrube und einigen Geocaches. Schließlich riefen die Kinder auf dem Parkplatz bemerkenswerterweise im Chor: „Wir wollen noch eine Wanderung!“ Bald gleichzeitig kam die Sonne zum Vorschein.
Ein herzliches Dankeschön an alle Familien. Alle haben zum Gelingen dieses ereignisreichen und zugleich erholsamen Wochenendes beigetragen. Auf zur Jugendherbergstour im Herbst 2013!