Sonntag, 18. August, 4.45 Uhr:
Schonungslos rappelt der Wecker. Ich ziehe die Decke über die Ohren. Keine Chance zum Weiterschlafen. Warum muss ich denn so früh aufstehen, ich habe doch Urlaub! - Urlaub? Ach ja, ich wollte doch in Urlaub fahren, eine Bergtour ist angesagt, Klettersteigrouten durchs Wettersteingebirge, über Eisenstifte, Bügel und Leitern, an endlosen Metern festgespannter Drahtseile entlang, über Grate und Gipfel, durch Kare und Schluchten, und dieses alles in Deutschlands höchstem Bergmassiv, das darf man doch nicht verschlafen, also raus aus den Federn und rein in die Bergsteigerklamotten! Alleine brauche ich nicht zu fahren: Arne wirft schon die Rucksäcke ins Auto; mittlerweile trudeln auch noch meine Mitfahrer Rudi und Günther ein, so dass wir um 6.00 Uhr starten können.
Am Zielort Garmisch-Partenkirchen angekommen, wird erst einmal der Rucksack gesattelt, denn getreu dem Motto "Ohne Zug zur Spitze" wollen wir keine Bahnen benutzen, sondern uns die Höhen durch eigene Kraft im Schweiße des Angesichts erarbeiten. Auf dem Kreuzeckhaus treffen wir dann nach 900 Hm Aufstieg noch Ralf und René, die separat gefahren sind. Das Adolf-Zoeppritz-Haus, wie der richtige Name der Hütte am Kreuzeck heißt, wird insgesamt für drei Tage unsere Bleibe sein, um die ersten Übungstouren im Alpspitzgebiet zu absolvieren.
Montag, 8.00 Uhr:
Erster Erkundungsgang in Richtung Alpspitz-Nordwand. Alle sind gespannt, wie denn wohl die berühmte Alpspitz- Ferrata aussehen wird. Nach zwei Stunden Anstieg erreichen wir die Einstiegsstelle zur "Ferrata", einem relativ leichten, gut versicherten Klettersteig in dieser ca. 600m hohen Wand.
Nachdem alle die klettersteigmäßige Ausrüstung wie Hüft- und Brustgurt, Klettersteigset und Helm angelegt haben, geht es in die erste kaminartige Verschneidung mit vielen Eisenbügeln und einem supergespannten Seil. Bei diesem "Postkartenwetter" macht es richtig Spaß, sich in dieser Wand Meter für Meter hoch zu arbeiten. Nach gut zwei Stunden ist der Gipfel, die Alpspitze mit 2620m, erreicht. Ausgiebige Pause ist jetzt angesagt, das Panorama ist überwältigend. Aus ca. 5 km Entfernung grüßt die Zugspitze und der Jubiläumsgrat, der Höhepunkt unserer Tour, herüber.
Zu den Übungen dieses "Eingehtags" gehört nun auch neben Seilsicherungen freies Klettern im II. Grad auf der südlichen Abstiegsroute und Abfahren im Geröll des Grieskars. Danach wieder eine Erholungspause am Stuibensee, dessen eiskaltes Wasser einige Unerschrockene schwimmend durchmessen, und die abschließende Wanderung über den Bernadeinweg zur Hütte, wo der Hüttenwirt uns mit einer köstlichen Spaghetti-Variation verwöhnt.
Dienstag, 7.45 Uhr:
Nachdem wir die Route bis zur Alpspitze nun schon kennen, klettern wir zügig zum Gipfel und mit einer Variante durch die Westwand zur Grieskarscharte und hinab ins Mathaisenkar.
Der Schwierigkeitsgrad dieses Klettersteigs wird allgemein als höher empfunden als die Nordwandferrata, weil permanente Aufmerksamkeit und sicheres Auftreten auch auf kleinere Vorsprünge verlangt wird, aber schließlich erreichen wir um 16.30 Uhr die Höllentalangerhütte auf 1379m.
Mittwoch, 7.30 Uhr: Regentag!
Auf Anraten des Hüttenwirts lassen wir heute die geplante Zugspitzbesteigung ausfallen und machen stattdessen einen Regenbekleidungs-Dichtheitstest, indem wir die Höllentalklamm besichtigen, in der man ja auf jeden Fall, auch bei gutem Wetter, von oben gewässert wird.
Donnerstag, 7.00 Uhr:
Das Wetter bessert sich zusehends, sodass wir die Höllentalroute zum höchsten Berggipfel Deutschlands angehen können. Wegen des verlorenen Tages durch den Regen wird die heutige Tour erweitert, dass heißt, statt der Übernachtung im Münchner Haus direkt auf dem Gipfel, 2964m, wird die Fortsetzung der Tour bis zur Knorr-Hütte geplant. Die markanten Punkte wie die "Leiter" und das "Brett" werden ohne große Probleme gemeistert. Die ersten Schwierigkeiten tauchen erst beim Begehen des Höllentalferners auf. Ein Einzelkletterer direkt vor uns schätzt die Gefahr der Vereisung des Ferners gerade im steilsten Stück nicht richtig ein und saust, sich Arme und Beine wüst aufschürfend, ca. 20 Meter in die Tiefe. Mit Pflastern und Verbänden versehen kann er jedoch nach dem Schreck seine Tour fortsetzen. Wir begehen danach natürlich sehr, sehr vorsichtig diesen Steilhang.
Ein besonderes "Schmankerl" ist im Spätsommer natürlich immer die Randkluft oberhalb des Gletscherbruchs zur senkrecht aufstrebenden Felswand des Zugspitz-Gipfelaufbaus. Sie ist heuer ca. 1,30m breit, ca. 10m tief und muss in einem herzhaften Sprung zur Wand hin überwunden werden. Von dort aus leiten Seile ohne Ende bis zum Gipfel. Strahlender Sonnenschein als Belohung für die ca. 5-stündige Anstrengung!
Nach einer ausgiebigen Mittagspause klettern wir "luftig" zum Zugspitzplatt ab und erreichen nach zwei Stunden auf gemütlichen Wanderwegen die Knorr-Hütte auf 2052m.
Freitag, 5.00 Uhr:
Frühes Wecken; einige haben schon nicht gut geschlafen, denn heute steht das Highlight der gesamten Bergfahrt, die Begehung des Jubiläumsgrates an. Dieser Teil war als sehr lang und vor allem ohne Zwischenabstiegsmöglichkeiten angekündigt worden; infolgedessen ist die Nervosität der Teilnehmer doch etwas erhöht.
Allein der Aufstieg über den Brunntalsteig zum Hauptgrat ist ein Klettersteig mit viel ausgesetzter Gratkletterei; nach drei Stunden ist Jubiläumsgrat erreicht. Nun beginnt ein ständiges Auf und Ab über die Höllentalspitzen in Richtung Hochblassen, ständig sehr ausgesetzt und nicht durchgehend seilgesichert, so dass auch selbständig (II. Grad) geklettert werden darf. Sehr steil und "pfiffig" zeigt sich die Passage der Vollkarspitze, ein ca. 35 - 40m hoher Turm, der in der "direttissima" begangen wird. Besonders interessant ist hier die Bewältigung einer10m hohen senkrechten und absolut glatten Wandstelle, bei der neben der Seilhilfe noch eine gehörige Portion "Armschmalz" von den Kletterern verlangt wird.
Über die Grieskarscharte und die Schöngänge schließt sich der Kreis wieder bis zum Kreuzeckhaus. Wege-Bilanz für heute: 11 Stunden! Alle sind froh, das gesteckte Ziel geschafft zu haben.
Bei der Abschlussbesprechung in der Hütte stellen die Teilnehmer fest, dass sie viele neue Wege und Steige kennen gelernt haben und das Wettersteingebirge jetzt unter einem anderen Blickwinkel betrachten können. Die allseits bekannten Gipfeltouren mit der Zahnradbahn oder der Eibsee- Seilbahn sind sicherlich nicht ausreichend, um das Zugspitzmassiv zu "erfahren". Übereinstimmend ist man beim abendlichen "Absacker" der Ansicht, dass sich auch eine Bergtour in den deutschen Alpen in vergleichbar geringeren Höhen lohnen kann, vorausgesetzt, das Wetter spielt mit.
Anekdoten kreisen in der Runde; besonders die von dem einen Bergsteiger einer Pforzheimer Tourengruppe, der an der ersten Raststelle am Jubiläumsgrat seinen dampfenden Füßen eine Erholung gönnen will. Er zieht seine Bergstiefel aus, und - prompt verabschiedet sich einer davon talwärts, unerreichbar in einer Schlucht tief unter der Abbruchkante. Was tun? Guter Rat ist teuer! Er veranstaltet eine Socken- Sammlung bei seinen Bergkameraden, humpelt allein zur Zugspitze zurück, fährt mit der Bahn nach Garmisch-Partenkirchen, kauft dort für sein letztes Bares neue Bergschuhe, fährt mit der Alpspitzbahn wieder hoch, um von dieser Seite seiner Gruppe wieder entgegen zu gehen, trifft diese jedoch nicht, hält uns aus der Ferne für seine Kameraden, wir nehmen ihn mit zur Hütte, er ist äußerst beunruhigt durch das Ausbleiben seiner Gruppe, denkt an einen Rettungseinsatz der Bergwacht, aber schließlich tauchen seine Leute aus der Dunkelheit auf. Sie hatten für den Grat 16 Stunden benötigt!