Datum: 30. 09 2011
Autor: Andrea Oversberg
Die Sonne treibt uns die Schweißperlen auf die Stirn und lässt uns vergessen, dass es bereits Oktober ist. Ein kilometerlanger Lindwurm aus Menschenleibern schlängelt sich in die Seilbahnstation, aus der im 20 min Takt eine einsame Gondel startet. Wie gut, dass diese Menschen alle dahin wollen, woher wir gerade kommen. Es ist ein herrlicher Samstagnachmittag und frohen Mutes betritt unsere kleine Truppe das Edmund Probst Haus, das für dieses Wochenende unser Basislager sein soll. Eine ähnliche Idee muss wohl vielen Menschen gekommen sein. Die Begrüßung durch unsere Hüttenwirtin fällt dementsprechend eher frostig aus, doch bei diesen sommerlichen Temperaturen soll uns das nicht schrecken. Solange genügend Licht vorhanden ist, erkunden wir auf knapp 2000m die nähere Umgebung. Am interessantesten ist natürlich das direkt vor der Tür gelegene Nebelhorn, das leider gerade seinem Namen alle Ehre macht und sich in– ja, genau- Nebel hüllt.
Unsere Hütte hat ihr ganz eigenes Flair. Hüttenschuhe gelten grundsätzlich als Gemeingut. Wer seine nicht findet, nimmt eben die vom Nachbarn. Wer zuletzt auf der Hütte ist, hätte eben schneller gehen müssen. Pech für Rudi und mich.
Das Abendessen folgt dem Außenstehenden undurchsichtig scheinenden Gesetzmäßigkeiten. Nach einer Weile finden wir heraus, dass sich die Wirtsleute in drei Kategorien einteilen lassen:
Kategorie 1: Bingo, ansprechbar, nimmt Bestellungen auf und bringt Essen
Kategorie 2: Ist ansprechbar, bringt eventuell Essen, Bestellungen werden allerdings ignoriert/abgeschmettert
Kategorie 3: Besser nicht ansprechen
Wer seinen Hüttenschlafsack vergessen haben sollte, kann mit einem kleinen Preisaufschlag von rund 65% günstig einen von der Hüttenwirtin (Kategorie 3) erwerben. Glück für Sven.
Auch das Funktionsprinzip der Duschen ist kinderleicht. Wer einen Euro einwirft, NICHT auf den Knopf drückt, dafür aber kräftig gegen den Kasten schlägt, bis das rote Licht leuchtet, kann eine Minute lang duschen. Zwischendurch kann er das Wasser abstellen, manchmal geht es danach auch wieder an. Wer einen weiteren Euro einwirft, kann wieder ein Minute duschen. Man kann auch direkt zwei oder drei Euro einwerfen, und dann eine Minute duschen. Wer dieses Prinzip nicht versteht oder nicht gutheißt, kann sich gerne bei der freundlichen Hüttenwirtin (Kategorie3) darüber informieren. Und dann auf dem Boden im Flur schlafen.
Am Sonntagmorgen treffen wir auf unsere tapferen Mitstreiter Sabine und Michael, die in aller Frühe schon den mehr als 1000Hm Aufstieg aus dem Tal hinter sich haben, und unsere Truppe komplett machen. Jetzt kann es losgehen.
Unser Weg führt uns vom Edmund-Probst-Haus erst hinauf zum Westlichen Wengenkopf und weiter bis zum Östlichen Wengenkopf. Petrus scheint einen Narren an uns gefressen zu haben, denn er schenkt uns einen stahlblauen Himmel und genauso sommerliche Temperaturen wie am Vortag. Da kann sich glücklich schätzen, wer ein ähnlich südländisches Erscheinungsbild hat wie Freddi oder Sven. Die eher nordische Fraktion kämpft derweil mit Sonnenmilch von LSF 30 bis 50+ meist mehr, teilweise auch weniger erfolgreich gegen drohenden Sonnenbrand. Doch diese Dinge vergisst man nur zu leicht bei dem großartigen Panorama, welches sich uns nach jeder Kehre und von jedem der vielen kleinen Zwischengipfel von neuem bietet. In den vielen kleinen Fotopausen können wir den menschlichen Lindwurm dabei beobachten, wie er sich hinter uns langsam über den Grat windet und uns glücklich schätzen, bereits vor Ankunft der ersten Seilbahn am Morgen am Einstieg gewesen zu sein.
Vor uns erstreckt sich herrlichstes Gelände, schmale Gratpfade wechseln sich mit mäßiger Kraxelei und anspruchsvolleren Kletterstellen ab. Zwar ist der ein oder andere Blick in die Tiefe nichts für schwache Gemüter, aber unsere Truppe ist absolut trittsicher unterwegs und unser Youngster Paul erntet für seine Fitness und Unerschrockenheit anerkennende Blicke. In Kalk in allen Schattierungen von dunkelgrau bis strahlendweiß befinden sich nun vor uns der Große und der Kleine Daumen und hinter uns die Wengenköpfe. Man muss sie einfach lieben, diese Berge, und man muss ihn einfach mit jedem Atemzug genießen, diesen traumhaften Steig an diesem herrlichen Sonntag. An einer der schwierigeren Kletterstellen passiert schließlich das Unglück: Ein bisschen zuviel Schwung, ein bisschen zu wenig Halt und schwupps, da fliegt die Wasserflasche aus dem Rucksack die Geröllpiste hinunter. Was nun? Rudi urteilt mir erfahrenem Auge: „Da kommt man noch ran.“ Sven als Leiter unserer Expedition leitet pflichtbewusst die Bergung ein und hat schon nach wenigen Augenblicken eine unverletzte Gerolsteiner-Flasche in den Armen. Aus lauter Dankbarkeit erklärt sich die Besitzerin der Flasche bereit, Sven für seine mutige und selbstlose Tat seinen neuen Hüttenschlafsack abzukaufen.
Anstrengung und Sonne sind nicht zu unterschätzen und nach guten 5 Std ist nun der Zeitpunkt gekommen, an dem sich unsere Gruppe teilen muss, in diejenigen, die vor dem Gratkopf absteigen und noch einen Abstecher zum Laufbichelsee machen, und die tapferen Recken, die den Gratkopf noch besteigen, um von der anderen Seite zum See zu gelangen. Sven bringt Freddi, Christoph, Sabine und mich auch das letzte Stück noch gewohnt souverän und sicher über den Steig, und himmlisch ist das Gefühl, die geschundenen Füße in den eiskalten Gletschersee zu halten. Der Rekord für die längste Zeit des ununterbrochenen Füße-ins-Wasser-halten hält dabei unangefochten mit ca 45min Freddi. Herzlichen Glückwunsch!
Abends auf der Hütte geht es dann recht ruhig zu. Bis auf Paul, der ähnlich dem Duracell-Hasen aus der Werbung nicht müde zu kriegen ist, merkt ein jeder, was er am Tag geleistet hat. Heute erzählt uns Rudi als guter Vereinsvorsitzender auf unser Bitten hin die Gute-Nacht-Geschichte von der schwarzen Hand. Und obwohl noch so viele Fragen offen sind (Wo haben die Cowboys die ganzen Bohnen her? Wieviel Bohnen kann eine schwarze Hand wohl essen? Und wieviele Pfannen Essen kann man in einer Nacht eigentlich kochen?) schlafen wir alle müde und zufrieden ein.
Am nächsten Morgen fährt ein jeder, man glaubt es kaum, mit seinen eigenen Hüttenschuhen im Gepäck wieder ins Tal hinunter, während sich der Lindwurm im Tal von der Seilbahnstation über den Parkplatz bis ins Dorf hinein schlängelt. Vom Erfolg des letzten Tages beflügelt, stellen wir uns nun einer noch größeren Herausforderung: Treibe in Oberstdorf am Feiertag ein kümmelfreies Frühstück auf. Eine schwierige Sache, doch auch diese Aufgabe haben wir gemeistert. Nach so vielen gemeinsamen Taten sind wir uns wohl einig: Das war ein rundum gelungenes Bergwochenende. Danke Sven, gut gemacht