Datum: 14. 07 2001
Autor: Karl Zöll
Mir ist zwar nicht bekannt, ab welcher Anzahl von Beteiligten von einer Invasion gesprochen werden kann, aber wenn man während 12 Tagen mit insgesamt 21 Personen in den Alpen unterwegs ist und auf den Hütten die größte geschlossene Gruppe bildet, kann schon von einer kleinen, hier allerdings friedlichen Invasion die Rede sein. Für eine vergleichsweise sehr kleine Sektion wie Schleiden sicherlich eine respektable Tatsache.
Das Teilnehmerlimit von 6 Personen konnte ich leichten Herzens ignorieren, hatte ich doch meinen alten Spezi Hanns Hein dabei, der sich fachmännisch und mit Erfolg vor allem um die Einsteiger kümmerte. Neben Einsteigern, den Teilnehmern ohne Hochtourenerfahrung, waren auch Seiteneinsteiger, Absteiger und Aussteiger bezogen auf die Bergsteigerei dabei. Das ergab eine gesunde Mischung und ein gutes Niveau für die Gruppe.
So bewegte sich an einem herrlichen Augustsommertag ein 13köpfiger Lindwurm von Arolla aus Richtung Vignetteshütte, die auch bei Einbruch der Nacht erreicht wurde. Warum so spät? Geänderte Wegführung im unteren Teil des Hüttenweges, Fehlen jeglichen Hinweises an entscheidender Stelle und Spuren, die in eine Sackgasse mündeten, führten zu einem kräftezehrenden Umweg und Wiederabstieg in scheußlichem Moränenschuttgelände. Außerdem war mir der Hüttenaufstieg lediglich von spätwinterlichen Verhältnissen, komplett begraben unter einer Schneedecke bekannt.
Soll alles keine Entschuldigung sein. Der erste Zacken aus der Krone des Leiters war schon weg. Wer den Schaden hat... ! Doch der Spott war erfreulicherweise einer von der gutmütigen Art. Nach diesem Hüttenaufstieg hatten manche von uns ihre anstrengendste Tour schon hinter sich. Da während der ganzen Zeit unseres Aufenthaltes Kaiserwetter herrschte, stand jeder Tag für Aktivitäten zur Verfügung. So kam wohl jeder auf seine Kosten. "Wenn die Sektion Schleiden reist, lacht der Himmel". Dank Hanns Hein stand sogar Ausbildung auf dem Programm.
Auf meine Anregung im Vorfeld hin bot er vor Ort den Teilnehmern an, Kenntnisse wie Knotenkunde, Anseilarten zu vermitteln bzw. aufzufrischen. Einen Tag übte er in Hüttennähe mit den Leuten die üblichen Gangarten im steilen Firn und Eis, dazu Sicherungstechnik und die Grundbegriffe der Spaltenbergung. Sein Angebot wurde von der Mehrzahl der Teilnehmer dankbar und mit starkem Interesse wahrgenommen. Am nächsten Tag sollten die Kenntnisse nach Möglichkeit im Rahmen einer schönen Hochtour in die Praxis umgesetzt werden. Ziel war der l'Evêque (Bischof). Es sollte der spektakuläre Tag unseres Seniors Kurt (73 Jahre) werden.
Während die "Kursteilnehmer" noch beim Zusammenstellen der Seilschaften bzw. beim Anseilen sind, ist die Vorhut bereits im Dunkel der Nacht ver-schwunden. Bald hat sich Diethard, unser Neuling und Konditionswunder, abgesetzt. Wann kommen die anderen? Immer wieder schauen wir zurück.
Da taucht weit hinten ein einsames Licht auf. Reinhard, Wolfgang und ich warten. Es ist Kurt, der sich vom Rest der Truppe abgesetzt hat. Enorm, wie er in seinem Alter noch vorankommt. Wolfgang passt sich seinem Tempo an, Reinhard und ich nehmen die hoffnungslose Verfolgung von Diethard auf. Den sehen wir schließlich an der Scharte zwischen Haupt- und Nebengipfel sitzen. Freudestrahlend zeigt er auf den Nebengipfel: "Da war ich gerade oben!". Den Grat zum Hauptgipfel hat er noch nicht in Angriff genommen, weil er dessen Solidität nicht traut. Sobald er aber sieht, dass unter meinen Händen und Füßen alles fest ist, schießt er an mir vorbei und ist bald oben. Ein Naturtalent mit fließenden Bewegungen ohne Angst, seiner Sache absolut sicher, von keinerlei Bedenken gehemmt. Dass die Bäume aber nicht in den Himmel wachsen, sollte er schon am nächsten Tag erfahren.
Während Reinhard und ich bedächtig absteigen, rennt er ein zweites Mal auf den Nebengipfel. Begeisterung, Euphorie, Drang nach oben pur; einfach ansteckend. Nicht weit unter der Scharte kommen uns Wolfgang und Kurt entgegen. Wir wünschen besonders Kurt viel Glück und tauchen in den Steilhang ein. Ab jetzt sind sie für uns unsichtbar. Der Rest der Gruppe begegnet uns am Fuß des Steilgeländes.
Wieder auf der Hütte wundern wir uns von Stunde zu Stunde immer mehr, dass die anderen noch nicht auftauchen. Wenigstens Wolfgang und Kurt müßten doch längst zurück sein. Mit dem Fernglas können wir unsere Kameraden endlich ausmachen. Sind die aber langsam! Na gut, die lassen sich Zeit und die Hitze am frühen Nachmittag wird ihnen außerdem zusetzen. Keine Sorge also. Ich lege mich aufs Lager und döse vor mich hin.
Plötzlich steht Hanns Hein vor mir: "Komm schnell, wir haben einen Verletzten". Ein Kanonenschuss in die nachmittägliche Ruhe. Erstes Erschrecken, sofort auf den Beinen, dann aber Beruhigung, als ich Kurt, unseren Invaliden, sehe. Sein linker Arm, notdürftig fixiert, hängt funktionsuntüchtig wie ein Fremdkörper an ihm: Schultergelenk ausgekugelt. Er trägt sein Mißgeschick mit Humor und zeigt keinerlei Leidensmiene. Das entspannt die Situation.
Was war passiert? Kurt kurz unter dem Gipfel des 1'Evêque an einer plattigen Stelle. Linke Hand schräg hoch oben an einem Griff, rechte Hand diagonal nach unten plaziert. Haltung ähnelt der eines Gekreuzigten. Jetzt heißt es links ziehen: Knacks! Der Oberarm hat sich aus dem Schultergelenk verabschiedet; nichts geht mehr. Wolfgang befindet sich glücklicherweise oberhalb von Kurt. Mit seiner ruhig, besonnenen, souveränen Art meistert er die heikle Situation. Mit Hilfe eines kurzen Seilstücks, das Kurt als Notreserve immer bei sich hat, kann er diesen fixieren und mit dessen kaum nennenswerter Unterstützung bis zur Scharte ablassen. Da hilft es sehr, daß Kurt nicht wehleidig ist. Dann kann sich Anke, unsere Medizinstudentin, mittlerweile mit der Nachhut angekommen, fachmännisch - besser ''fachfraulich" - um ihn kümmern u.a. auch mit einem Schmerzmittel versorgen. Danke Anke!
Ein Versuch den Arm wieder einzurenken, führt leider nicht zum Erfolg. Unter der Regie von Hanns Hein bringt die Gruppe Kurt dann ohne weitere Komplikationen sicher zur Hütte.
Aber noch ist Kurt nicht im Tal und im Krankenhaus und der Tag ist schon weit fortgeschritten. Zwei von uns sollen seinen Abstieg begleiten und ihm dabei helfen. Während ich bei der Hüttenwirtin Kurts Rechnung begleiche und ihr die Situation schildere, fällt ihrerseits das Stichwort "Helikopter". Nachdem Kurt überschlagen hat, dass er , was den Kostenfaktor der Angelegenheit angeht, ausreichend abgesichert ist, wird ein Hubschrauber aus Sion angefordert. So endet dieser denkwürdige Tag mit einem furiosen und spektakulären Finale, quasi mit einem Happy End.
Alles, was in und um die Hütte herum Beine hat, ist natürlich zur Stelle
Nach einer kunstflugmäßigen Ehrenrunde entschwindet der Heli mit einem heftig winkenden Kurt im Sturzflug den Augen der gebannten Zuschauer Richtung Kantons-Hospital Sion. Alles Gute Kurt.
Etwas möchte ich an dieser Stelle loswerden, auch wenn ich möglicherweise damit eine Indiskretion begehe, weil es mir Kurt unter vier Augen anvertraut hat. Es ist einfach so bezeichnend für den guten Kurt. Kurz vor seinem Abflug nimmt er mich zur Seite: "Weißt du, Karl, das hier und heute sollte meine letzte, richtige Hochtour werden, mein Abschied vom alpinen Bergsteigen, zusammen mit dir und anderen Sektionskameraden. Dein Programm erschien mir dafür wie maßgeschneidert, und nun scheitert dieses Vorhaben ausgerechnet im Fels, wo ich mich immer am wohlsten gefühlt habe, sozusagen in meinem Wohnzimmer. Schade!"
Lieber Kurt, dem Manne kann frei nach Schiller geholfen werden. Das darf nicht das letzte Wort gewesen sein. Ein Kletterer und Bergsteiger wie du, der sogar den Trashi Labtsa im Himalaya überschritten hat, muss den Abschied von einer Tätigkeit, die ein Teil seines Lebens geworden ist, auf einem rechtschaffenen Gipfel feiern. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, es sollte gerade der Gipfel des 1'Evêque sein und ich würde mich sehr freuen, dabei zu sein.
Für den letzten Tag hatte ich mir den Bec d'Epicoune gesetzt, den "wohl elegantesten Gipfel im Grenzkamm". Mit einer "Miniaturausgabe des Biancogrates" als Gipfelgrat, von der Vignetteshütte aus gerade noch weit hinter den "sieben Berge im Dunst des Valpelline erkennbar. Deshalb wohl in erster Linie wird die Vignetteshütte als Ausgangspunkt in keiner Literatur erwähnt: Trotzdem gelang es mir, drei Mitstreiter für die Tour zu gewinnen: Diethard. Reinhard und Wolfgang. Der Rest der Gruppe zog es vor, sich am nächsten Tag unter Hanns Heins Aufsicht auf den umliegenden Gletschern die Füße zu vertreten.
Als wir pünktlich zum Abendessen, bei hereinbrechendem Gewitter die Hütte wieder betraten, hatten wir eine in mehrfacher denkwürdige Tour hinter uns. Die theoretische Höhendifferenz zwischen Hütte und Gipfel des Bec d`Epicoune beträgt gerade einmal 370m. Die Praxis sollte uns aber ca. 1750m Aufstiegshöhe abverlangen, einmal wegen des mehrfachen Auf und Ab bis zum Einstieg, vor allem aber wegen des endlos langen Gegenanstiegs zur Hütte zurück über den Otemma-Gletscher mit allein 550m Höhendifferenz. Steinschlag, brüchiger Fels und ein sehr steiler Notabstieg mit Überwindung hatten unseren Trip vollends zur einer ausgewachsenen Westalpentour gemacht. Es waren schon Stimmen laut geworden, nach Italien abzusteigen.
Steinschlag und gefährlich brüchiger Fels waren es auch, die unseren Himmelstürmer Diethard - anfangs immer weit voraus - zum Nachdenken gebracht hatten. Das Matterhorn kann noch 2 Jahre warten. Nächstes Jahr möchte ich mich vorerst mit dem Mont Blanc begnügen, revidierte er nun die Zeitpunkte für seine Hauptziele in den Alpen.
Mit anderen Worten: Ich will noch Erfahrung sammeln. Das machte ihn noch sympathischer, als er mir ohnehin schon war. Natürlich wurde dieser letzte Abend auf der Vignetteshütte bis zum Zapfenstreich ausgedehnt und endete in einer weinseligen Stimmung. Er spiegelte noch einmal die gute Kameradschaft, die Harmonie, die nie getrübte gute Stimmung innerhalb unserer Gruppe wieder. Wir hatten viel Spaß miteinander, das Lachen hatte einen sehr hohen Stellenwert in diesen Tagen. Dazu paßt auch, dass ich im Laufe des Abends - ich glaube von Heidi - den Spitznamen "Epicouni" verpasst bekam. Mit diesem Titel kann ich gut leben, nach dem Motto: Man muss auch über sich selbst lachen können. Einige fahren nach Hause, einige Einige fahren nach Hause, einige bleiben noch, wieder andere stoßen jetzt erst zu uns. Nach einem lustigen und regenerativen Schlechtwetterintermezzo im Valpelline finden wir uns jetzt im abgelegensten und wildesten Winkel der Alpen wieder. Das Eccles-Biwak - der Zustieg schon eine Bergtour für sich - nicht gerade eine Nobelherberge, ist unser Stützpunkt. Konzipiert für 8 Personen, teilweise belegt mit l3 Personen. Der nächtliche Aufbruch muß immer in Raten vonstatten gehen. Tagsüber bei dem herrlichen Wetter nicht so schlimm. Man kann sich zu dritt auch draußen aufhalten, muss sich aber vor Augen halten, nicht mehr als einen Schritt geradeaus vor die Türe zu gehen. Der nächste würde schon ins Bodenlose führen. Hier oben trifft man lediglich zwei Kategorien von Bergsteigern an:
1. Die "Extremen", die sehr Leistungsfähigen und Anspruchsvollen, denen es um Ziele wie Brouillard-Innominata-oder Peutereygrat geht, deren Trümpfe Freney-Zentralpfeiler, die roten Brouillard-Pfeiler oder Hypercolouir de Brouillard heißen.
2. Die Viertausendersammler, zu denen wir uns zählen, denn hier befinden sich drei der 62 klassischen Viertausender der Alpen. So erklärt sich auch ein typischer Dialog von gestern auf der Punta Baretti zwischen Hermann, Walter und mir, nachdem wir eben den Mont Brouillard überschritten hatten. Wieviel Alpenviertausender fehlen dir jetzt noch.
Walter: sechs
Hermann: fünf
Selbst: einer.
Auf dem Weg zu diesem einen - Aiguille Blanche de Peuterey befinden wir drei uns soeben. Hermann aus Mettman, Walter, Bratscher und Bergsteiger (ein hervorragender) aus Bad Tölz und der Berichterstatter.
Meine beiden Begleiter übrigens ideale Bergkameraden.
Gestern waren Ferdi und Reiner oben. Nach ihren Erfahrungen und bei den zum Teil herrschenden Jahrhundertverhältnissen müssten auch wir Erfolg haben.
Wir befinden uns also auf dem Weg, genauer, auf dem Col Eccles. Abseilen zum Col de Peuterey wäre der nächste Schritt. Noch ist es Nacht, doch fast unmerklich kündigt sich der neue Tag mit fahlgrünem Schimmer im Osten an. In der kristallklaren Luft zeichnen sich die feinen Linien der Grate gegen den Himmel ab, der eben seine Nachtschwärze angelegt. Wir fühlen uns wie Akteure vor einem riesigen Amphitheater in einem Schauspiel dessen Dramaturgie wir noch nicht kennen. Noch bildet nur der Nachtwind , der von Zeit zu Zeit fauchend durch den Col fährt, die einzige akustische Wahrnehmung im großen Schweigen.
Doch dann hebt sich der Vorhang und ein Dialog von antiker Strenge und schlichter Sachlichkeit fällt schicksalsschwer in die Stille.
Wo ist das Seil?
Hier!
Kurze Pause.
Das ist aber nicht mein Seil!
Egal!
Ich suche die Mitte.
Halt, da ist die Markierung.
Aber das sind noch keine 20m. Das Seil ist viel zu kurz.
- Nach einer Minute --
Das sind nur etwa 35m.
Verdammt!!!
Aus drei Kehlen gleichzeitig. Ende des Dialogs.
Kurzfassung einer Tragödie oder einer Komödie? Am ehesten noch eine Tragikomödie.
Wir machen noch einen Versuch, aber das Seil reicht bei weitem nicht bis zur nächsten Abseilstelle. Hier wären wir allerdings noch mit Abklettern weitergekommen, aber für den Abstieg von der Aiguille erscheint uns das Risiko zu groß, ohne ein Seil in entsprechender Länge. Wir geben uns geschlagen, Rückzug!
War es etwa ein Wink des Himmels, der uns vor möglichem Unheil bei der Fortsetzung der Tour bewahrt hat? Ein gewisser Trost? Mir fällt später noch die Weisheit eines klugen Mannes ein (Oscar Wilde?), die sinngemäß lautet: Ein Unglück ist es, keine Träume, Wünsche und Ziele zu haben. Ein größeres aber, alle erfüllt und erreicht zu haben. Nun bleibt mir mein Viertausendertraum wenigstens noch eine Zeitlang erhalten. Wie schön für mich!
Auf der Biwakschachtel klären sich die Zusammenhänge. Reiner, schon zurück von seinem Alleingang zur Punta Baretti, hatte bei seinem Aufbruch, während wir noch auf der Matratze lagen, im schwachen Licht der Stirnlampe versehentlich Walters 50m Seil mitgenommen. Walter steckte dafür mein gleichfarbenes Seil in den Rucksack. Das aber hatte einen Schaden abbekommen, während ich es ausgeliehen hatte und war deshalb um ca. 15 Meter verkürzt worden und nicht nur um 5m, wie ich glaubte zu wissen.
Die Enttäuschung des ersten Augenblickes ist schon längst verflogen, als wir nach einem erfrischen Bad im Bergbach den Abend im Tal bei ausgezeichnetem Essen und einem guten "Roten" - Weinkenner Hermanns Empfehlung - standesgemäß und bei bester Laune ausklingen lassen, schon wieder neue Pläne im Kopf.
Natürlich sind die Alpen auch im nächsten Jahr das große Ziel, allein schon um meinen vierten Anlauf auf den letzten Mohikaner zu starten.
Ich freue mich darauf! Wer macht mit?