Datum: 26. 09 2017
Autor: Claudia Schneidereit
Norwegen – ein Land, das auf meiner Prioritätenliste seit langem ganz oben stand. In diesem Jahr ergab sich nun eine Reise in das Land der Trolle. Ich freute mich auf Landschaften, von denen ich noch keine konkrete Vorstellung hatte, nur eine Ahnung. Und ich wollte mich überraschen lassen. Die Hardangervidda bot sich als Wandergebiet an und so starteten wir – mein Skandinavien-erfahrener Freund Manfred und ich – Mitte August unsere Reise.
Im Landeanflug auf Oslo war ich erstaunt über die grüne Seenlandschaft, die sich unter uns darbot. Am Flughafen Sonne, leichter Wind – die Frisur sitzt...
Der Anschlussflug nach Bergen bot eine Sicht auf die Hardangervidda aus der absoluten Vogelperspektive. Durch Wolkenlücken erspähten wir den beeindruckenden Gletscher und das gewaltige „Nichts“. Ankunft in Bergen, leichter Nieselregen, bedeckt – die Frisur...naja.
Bergen ist sehr lohnenswert, und bei angenehmen ca. 15 Grad bummelten wir später durch die Gässchen und den Hafen.
Nach einer Nacht im zentral gelegenen Hostel fuhren wir mit einem Expressboot frühmorgens an der Küste entlang und in den Sognefjord hinein. Wenn ich mal nach Norwegen komme, wollte ich auch unbedingt mal einen Fjord sehen. So verbrachten wir über fünf Stunden draußen auf dem Boot, teilten uns die tollen Aussichten mit einer Horde vorwiegend asiatischer Touristen und ihren unvermeidlichen Fotoapparaten.
In Flam angekommen, erwartete uns nochmal ein Highlight, nämlich eine der spektakulärsten Zugfahrten der Welt über Myrdal bis nach Finse, unserem Ausgangspunkt für die Durchquerung der Hardangervidda.
Geplant war eine Nord-Süd-Querung der größten Hochebene Europas innerhalb von 8 Tagen. Für die erste Etappe lagen 22 km vor uns, auf der Karte mit sieben Stunden reiner Gehzeit angegeben.
Der erste Tag. Wie so oft erst mal beschwerlich, der Rucksack mit 14 kg noch ordentlich schwer. Zuerst ging es auf dem Rallarvegen (Radweg) auf ausgebautem Weg bis zu einem Abzweig. Noch ein paar kleine Hüttchen begegneten uns, doch dann lag wirklich nur noch Wildnis vor uns. Zwei schaukelige Hängebrücken über rauschendes Wasser, viel sumpfiges und steiniges Gelände. Das Wetter war kalt, aber wolkig mit Sonnenabschnitten. Gerade als wir die erste längere Steigung etwa zur Hälfte geschafft hatten, fing es an zu regnen. Hinter diesem Hügel sahen wir den Hardangerjokkulen, den eindrucksvollen Gletscher, doch alles war wolkenverhangen, neblig. Aber wie so oft in den nordischen Ländern ist Wetter eine Sache von Minuten: der Nebel verzog sich wieder und es kam sogar etwas die Sonne raus. Die Sicht auf den Gletscher war nunmehr der Hammer und langsam wurde meine anfängliche Unsicherheit zu dem, was es sein sollte: das Bewegen und Genießen im Hier und Jetzt.
Ich fand einen Stein, rauh und schwarz-weiß wie die Landschaft hier und nahm ihn als Souvenir mit. Wir querten etliche Schneefelder, balancierten über unzählige Bäche und standen dann über einem Gletschersee mit Eisinseln. In den nächsten See platschte ein kleiner Wasserfall. Der See leuchtete türkis und darüber erhob sich ein seltsam gefalteter, terrassenförmiger Berg. Wir umrundeten den See fast vollständig und ich konnte mich von diesem Panorama kaum lösen.
An einem weiteren See wurde es so angenehm und schön, dass wir oberhalb davon bei Traumaussichten kurz rasteten und den Moment genossen. Danach folgte ein Highlight nach dem anderen: runter in eine Schlucht mit dramatischen Felsen, Wasserfällen und grünen Hängen. In der Ferne sahen wir im Dunst den Harteigen, die markanteste und höchste Erhebung der Hardangervidda. Die Landschaft hatte absolut etwas mystisches. Ich fühlte mich in das bezaubernde Elbenland Bruchtal aus „Herr der Ringe“ versetzt.
Der Abstieg zu unserem Etappenziel, der Rembesdalseter-Hütte, war alpin und unglaublich rutschig und forderte nochmal unsere ganze Aufmerksamkeit.
Diese Selbstbedienungshütte ohne Strom und fließendem Wasser, mit Plumpsklo irgendwo draußen, hat mich verzaubert. Proviant steht dort genug zur Verfügung, man muss es nur selbst zubereiten und aufschreiben, was man verbraucht hat. Das entsprechende Formular zur Kreditkartenzahlung wird ausgefüllt in eine Box geworfen – so funktioniert hier alles auf dem Ehrlichkeits- und Vertrauensprinzip.
Ein Leipziger Paar ging nahezu die gleiche Tour und hatte einen Outdoor-Führer dabei. Für die nächste Etappe standen da so gruselige Dinge drin wie „Dieser Tag wird sie an ihre Grenzen bringen“ und „zwei sehr steile Anstiege mit leichten Kletterstellen“. Musste ich mir Sorgen machen???
Früh gingen wir schlafen, denn früh wollten wir auch los.
Die Karte gab für diese Etappe nach Liseth sportliche sieben Stunden reine Gehzeit an, der Outdoor-Führer der Leipziger dagegen anstrengende und schwierige zehn. Wir richteten uns entsprechend auf einen langen Marsch und ein spätes Ankommen ein. Zunächst ging es bergauf, um über die Berghänge auf die andere Seite des Stausees zu kommen. Hinter der Staumauer dann der erste Anstieg: es hätte schon gereicht, wenn er nur steil gewesen wäre, aber so voller Matsch und Sumpf war es ein abartiges Gelände. Viele Male bin ich weggerutscht oder bis über den Knöchel im Schlamm versunken. Der Hang forderte mich auf diese Weise konditionell enorm. Aber ich weiß ja, irgendwann ist immer oben. Sumpf und Matsch blieben leider auch noch, als das Gelände wieder abflachte.
Dann kam ein Abschnitt, bei dem man entlang der Abbruchkanten ging und ständig einen tollen Blick auf den Eidfjord tief unten hatte.
Weit unten an einem See sahen wir die beiden Schweizer Mädchen, die auch in der Rembesdalseter-Hütte übernachtet hatten und heute morgen etwa eine halbe Stunde vor uns losgezogen waren. Als sie die Hütte verließen, konnte ich nur noch ungläubig den Kopf schütteln: zierlich und klein wie Schulkinder trugen sie jeder einen Rucksack von 15 kg. Aber die beiden sollten uns an diesem Tag noch weitaus mehr überraschen.
Auch die zweite Steigung schlauchte schwer und war von Matsch durchsetzt. Es schloss sich dann eine Landschaft an, die ich – auch, weil es sich wieder zugezogen hatte – als „grau in grau“ bezeichnen würde. Aber dann sah man in der Ferne verstreute Häuschen im Sonnenschein. Ganz unten. Da wollten wir hin.
Nach einer kurzen Rast am Wegesrand schoss mir beim Aufstehen plötzlich ein scharfer Schmerz ins linke Knie. Beim weiteren Abstieg wurde es schlimmer und die letzte halbe Stunde, die schon fast eben war, war es eine Qual. Gott sei Dank erreichten wir dann – nach 9 Stunden! - die Liseth Pension. Wir bekamen ein kleines Mini-Hüttchen für uns mit einem winzigen Klo, 2 Stockbetten, einer Miniküche und einer Sitzecke. Wie schön!
Im Haupthaus waren auch die Schweizer Mädels, die sich mit einem guten Essen stärkten. Dann zogen sie samt ihrem Wahnsinns-Gepäck weiter, um 5 Uhr nachmittags, um noch bis Viveli zu wandern. Das bedeutete nochmal 14 km bei ständigem Auf und Ab. Ich traute meinen Augen und Ohren nicht!
Mein Knie beruhigte sich über Nacht. Mittlerweile war ich mir auch sicher, dass es gar nicht das Knie selbst, sondern irgendein Muskel oberhalb war. Überlastung, die sich wohl wieder geben würde. Für morgen stand laut Karte lediglich eine 5 Stunden Etappe bevor, so dass wir uns Zeit lassen konnten.
m nächsten Morgen spazierten wir daher zunächst zum Vöringsfoss, einem berühmten Wasserfall in der Nähe. Die Sonne kam heraus und wir konnten zum ersten mal kurzärmelig gehen.
Danach stiegen wir durch Wald auf, hatten fantastische Blicke auf die Berge und den Hardangerjokkulen, bevor es in eine grüne Hügellandschaft ging, in der Schafe weideten und vereinzelte Menschen Moltebeeren sammelten. Die Sonne und das viele Grün vermittelten den Eindruck, in einem ganz anderen Land zu sein, so krass anders war nun die Landschaft.
Mein Knie/Bein spürte ich bei jedem Schritt, aber es war eher harmlos. Wir stiegen zu einem Fluss ab, über den uns eine leicht schräge Brücke führte. Danach begann ein langer Aufstieg, der sich unglaublich zog, aber gut gehen ließ. Zumindest war er nicht so sumpfig. Und genau ab hier begann das leichte Stechen im Knie zu einem Schmerz zu werden. Ich musste öfter stehen bleiben, mir die Stelle massieren.
Nach dem Aufstieg wurde es zugiger und die Wolken verdichteten sich. Der dann folgende Abstieg und Weiterweg zur nächsten Hütte wurde für mich zur absoluten Qual. Ich biss die Zähne zusammen. Über steiniges Gelände ging es dann noch weiter. Mittlerweile nahm ich nur noch diesen Schmerz wahr. Rucksack, nasse Füße, Regen, der jetzt auch noch einsetzte – alles scheißegal. Ich bekam nichts mehr von der Landschaft mit, ich versuchte nur noch, trotz Schmerzen einen Fuß vor den anderen zu setzen, denn ich wollte ankommen, und das möglichst bald.
Doch es kam einfach keine Hütte in Sicht. Der Weg ging ewig weiter, Stein um Stein, Schlammloch um Schlammloch und ich fing an zu zweifeln, ob es diese Hedlo-Hütte überhaupt gibt. Aber irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, sahen wir sie, und irgendwann waren wir wirklich da.
Für die heutige „leichte“ 5-Stunden-Etappe hatten wir 7,5 Stunden gebraucht. Und selbst die Leipziger waren nur eine halbe Stunde vor uns angekommen!?!
Am späteren Abend hielten wir Krisensitzung. Mir war klar, dass ich mit diesen Schmerzen nicht noch vier weitere Etappen laufen konnte. Nun, Pläne sind zum Ändern da (hab ich demletzt irgendwo gelesen...), und so vereinbarten wir, morgen einen Ruhetag zu machen und übermorgen zum Eidfjord abzusteigen. Und dann? Schauen wir mal.
Zwei Tage später – an meinem Geburtstag – ging es meinem Bein besser und wir machten uns auf den Weg über Viveli in Richtung Eidfjord. Die Landschaft wurde lieblicher, es ging auch durch Birkenwald, und wir konnten schon bald den Fjord-Einschnitt erahnen. Gegen Mittag waren wir an einem Parkplatz angelangt, von dem ein Fahrweg in Kehren relativ sanft bergab geht. Er bot uns tolle Ausblicke auf Wasserfälle und hohe Berge und es war trotz des Berabgehens die reinste Erholung für mein Knie, denn die Belastung war kaum spürbar. Nach einigen Stunden kamen wir nach Övre Eidfjord, einem Dorf mit zwei Campingplätzen und dem Hardangervidda-Naturcenter. Wir übernachteten wieder mal in einer Hütte, diesmal auf einem der Campingplätze und gönnten uns zur Feier des Tages abends eine Riesen-Pizza mit Bier.
Unsere Planänderung führte uns am nächsten Tag mit einigen Bustransfers bis nach Haukeliseter, dem ursprünglich vorgesehenen Endpunkt unserer Wanderung. Ein mehr als beschauliches Fleckchen Erde mit einer Hütte, die von komfortabler Hotelunterbringung bis Schlafsaal alles zu bieten hatte. Nebenan gab es die hütteneigene Bäckerei, in Seenähe eine Außensauna!
Wir wurden in einem alten, schnuckeligen Hüttennebengebäude untergebracht, wo wir uns das Vierbettzimmer zwei Nächte lang mit niemandem teilen mussten. Wir genossen das gute Essen, ließen uns auch wieder ein Bierchen schmecken und freuten uns tags darauf über das fantastische Wetter.
Was für ein Tag: strahlend azurblauer Himmel, spiegelglatte Seen mit Bergen rings herum, und die Sonne lacht!
Unsere Tageswanderung in dieser Umgebung führte uns in diese Berg- und Seenlandschaft hinein. Es lockte ein Wasserfall, an dessen Seiten wir weglos das Gelände hochstiegen, um oben an einem kleinen Bergsee und einer Hügelmulde anzukommen. Ein perfekter Mittagspausenplatz. Die Sonne schien uns ins Gesicht und ich wurde übermütig: der klare Bergsee lag so einsam und mit Blick auf ein Schneefeld da, dass ich beschloss, ein kurzes Bad zu nehmen. Ein sehr kurzes Bad, denn ich spürte schon beim Reingehen meine Füße nicht mehr. Holla, war das kalt – aber erfrischend. Ich tauchte einmal schnell bis zum Hals ein, um mich dann auf einem großen Stein trockenzusonnen.
Wir bestiegen auch noch den gegenüber liegenden „Hausberg“, der sich „Kista“ nennt und nahmen für den Abstieg eine andere Route. Dieser Tag war durch die außergewöhnlich guten Wetterverhältnisse einfach grandios und absolut genussvoll!
Am nächsten Morgen begrüßte uns ein dichter Frühnebel. Wir hatten für halb zehn ein Kanu gebucht (ja, auch das kann man hier!) und zogen frohen Mutes die bereitgestellten Schwimmwesten an. Leider fiel die Kanutour dann doch noch ins Wasser, zumindest für mich, denn ich landete im selbigen, und zwar tutti kompletti. Oh nein...meine Kamera!!!
Aber sie ist heil geblieben, das Handy auch (und – by the way – ich auch...). So verbrachte ich die noch verbleibenden zwei Stunden bis zur planmäßigen Abfahrt unseres Busses nach Oslo damit, mich und meine Klamotten zu trocknen, was hinsichtlich der Kleidung natürlich nicht gelang, denn auch der Trockenraum kann keine Wunder vollbringen.
In den Gepäckraum des Busses kamen dann zwei große Rucksäcke – und eine fest zugeschnürte Plastiktüte mit nassen Sachen und Schuhen. Nun denn. Die fast sechs Stunden dauernde Busfahrt bot schöne Aussichten, denn sie ging bis kurz vor Oslo nur über Landstraßen (was mir zwischendurch ein wenig Übelkeit bescherte).
Nach einem letzten Tag in der Hauptstadt Norwegens verließen wir schweren Herzens das wunderschöne Märchen- und Abenteuerland voller Naturgewalten.