Petit Mt Collon Nordwand: Endlich!!
Getreu meinem Motto "Ein Jahr ohne neue Gipfel ist ein verlorenes Jahr" habe ich mich in 1995 auf der Jagd nach solchen und auch zur Komplettierung meiner "Alpen-Viertausender-Sammlung" in den Alpen umgetan.
Und siehe da: Es sind sechs Neue dabei herausgekommen.
Es waren alles sehr denkwürdige Touren - die Denkwürdigkeit einer Bergtour übrigens ist für mich ein ganz wichtiges Kriterium - unter zumeist sehr mäßigen Witterungsbedingungen. Es waren u.a. Westalpenklassiker mit klingenden Namen wie Zinalrothorn, Dent Blanche oder Grandes Jorasses. Es waren Unternehmungen mit gleichgesinnten Kameraden, wie Reiner, Ferdi oder Wolfgang, auf die man sich absolut verlassen kann, die auch bei widrigsten Verhältnissen nicht klein beigeben. So kam es denn, daß wir innerhalb unserer Sektionstourenwoche bei den in diesem Sommer üblichen schlechten Wetterbedingungen auf fast leeren Hütten übernachteten, am Berg ziemlich allein waren und am Gipfel unter uns waren.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich an dieser Stelle meine Begleiter des letzten Alpenbesuches im September, der wegen katastrophalen Wetters schon fast im Ansatz zum Erliegen kam. Es handelte sich um Siegfried und Gerhard, die mit großer Begeisterung und Einsatzfreude bei der Besteigung der Aiguille du Tour dabei waren, wie im übrigen auch meine Frau Anita.
Am eindrücklichsten aber war in dieser Reihe die Besteigung der Grandes Jorasses mit Ferdi - lt. Führer PD= peu difficile = wenig schwierig. Aber bei den Bedingungen wurde die Tour recht dramatisch, was auch hier und da in der Literatur angedeutet ist.
Hier nun ein stichwortartiger Kurzbericht:
Bei Einbruch der Nacht Ankunft auf der Boccalattehütte. Kein Hüttenwart, nichts zu Kochen und zu Stochen. Von vier Italienern aus einem Blecheimer eine Art Suppe bekommen. Hätte ich im Tal doch noch die Pizza gegessen, nach der mich so gelüstete. Aber die Zeit drängte doch so! So bekam ich erst nach der Rückkehr ins Tal wieder etwas Rechtes zwischen die Zähne und unter den Gaumen: Aber das war dann auch ein Festmahl! Nach diesem Exkurs ins Vorweggenommene zurück zum Berg.
Bei Nacht und Nebel Abmarsch hinter den Italienern. Irgendwann sind diese verschwunden, und wir beide haben den Berg für uns. Durch schauerlich-schöne Seraczonen mit fast senkrechten Passagen, mit mehrfachem Hin und Her, mit Verhauern und Festrennen, mit Vor und Zurück, mit schwieriger Wegsuche durch Felsriegel kommt nach acht Stunden endlich der Gipfel in Sicht, als Ferdi zu allem Überfluß auch noch bis zum Bauch im Treibschnee versinkt.
Kann es noch schlimmer kommen? Es kann!
Mittlerweile stecken wir im dicksten Nebel, fünf bis zehn Meter Sicht, keine Spur, nur eine vage Vorstellung vom Abstieg ins Ungewisse, ins Konturlose. Rückwärts, mit dem Gesicht zur Flanke, geht es mit zwei Eisgeräten stundenlang abwärts. Es wird immer steiler, haushohe Abbrüche, die man erst im letzten Moment sieht, zwingen immer wieder zu Querungen. Rinnen führen abwärts. Dann stehen wir zwischen Felsen über dem Bodenlosen: Ende? Da erkenne ich links unter uns einen Felskopf, den wir beim Aufstieg passiert haben. Auch Ferdi meint, da muß ein Durchschlupf sein. Tatsächlich: Wir kommen über heikel-glitschige Felsen wieder in bekanntes Gelände. Aber immer wieder heißt es suchen, wo ist die richtige Spaltenbrücke, wo ist der gangbare Weg nach unten. Der Nebel wird lichter, der Weg erkennbarer. Ferdi zieht sehr unangenehme Felsen vor - ich sehe ihn im Geiste schon abstürzen -, während ich mich in senkrecht angepapptem Eis und Schnee über eine Randkluft schwindle, um dann durch ein Seraclabyrinth den Standort von Ferdi zu gewinnen. Es wird endgültig Nacht, die Stirnlampen gehen allmählich in die Knie. Mit Steigeisen dauernd riesige Stollenklumpen, ohne geht es aber auch nicht.
Ich höre - glaube zu hören, wie ich später weiß - auf einem Felsgrat links über uns Rufe, ich sehe - glaube zu sehen, wie ich später weiß - die Konturen unserer Hütte dort oben. Rufe Ferdi, der schon tiefer unter mir ist, zurück. Wir steigen wieder hoch, versuchen irgendwie auf das Felsenriff zu gelangen. Am oberen Ende des Felssporns müssen wir erkennen: Es geht nicht, das kann nicht richtig sein. Um Mitternacht, pünktlich zur Geisterstunde, hocken wir uns unter Ferdi´s Biwaksack. Von unten Schnee, von oben die ganze Nacht Naßschnee. Habe Halluzinationen, bedingt durch den Sauerstoffmangel unter dem Sack, fühle mich von Zeit zu Zeit wie ein Ertrinkender, wie auf einem Achttausender. Meine Frau Anita, sowie Wolfgang und Rainer sind abwechselnd bei mir, ich sehe und spüre sie.
Auch diese Nacht geht zu Ende. Die Sicht ist brauchbar. Ferdi findet den richtigen Weiterweg. Auf der Hütte werden wir schon erwartet. Wir bekommen heißen Tee. Dann sind wir noch zwei Stunden allein auf der Hütte. Der Weg ins Tal ist schön. Ein Bad im Bergbach, ein Festmahl im Ristorante beschließen ein in jeder Hinsicht denkwürdiges Bergabenteuer. Jetzt fehlen mir nur noch die bekannten zehn kleinen Negerlein = zehn Alpenviertausender. Ja, wer stark werden will muß Eis(en) anfassen!
Auf der Heimfahrt hören wir zufällig im Radio, daß etwa 100 ausgesuchte Gebirgsjäger der Schweizer Armee in dieser Zeit versucht hatten, innerhalb weniger Tage alle Viertausender der Schweiz zu besteigen. Sie schafften nicht einmal die Hälfte. Da waren wir aber mächtig stolz. Wir haben unser nicht gerade allzu leichtes Programm zu 100% durchgezogen und das "per piccolo complesso". Und außerdem: Wir können guten Gewissens behaupten, für die Sektion Schleiden des DAV Werbung betrieben zu haben, erscheint doch in manch abgelegenem Hüttenbuch der Name unserer Sektion zum erstenmal.
Aber wenn ich jetzt nicht bald anfange, auf den Petit Mt Collon zu sprechen zu kommen, - siehe Überschrift -, dann würde als Korrekturbemerkung unter diesem Bericht - wie in der Schule hin und wieder erlebt - stehen: Thema verfehlt!
Well! Der alte Stamm des ehemaligen Bergsteigervereines Eifel wird sich noch erinnern können, wie viele Jahre die Nordwand des Petit Mt Collon schon auf der Liste der Frühjahrswochenendeistouren stand. Verschiedene Anläufe führten noch nicht einmal zur Vignetteshütte. Es wurde Zeit, daß diesem Zustand ein Ende gesetzt wurde. Nachdem, was ich heute weiß, ist der Petit Mt Collon gar nicht so "petit". Jedenfalls können wir, Hanns Hein und ich, dafür Zeugnis ablegen.
Für diese Tour konnte ich meinen Berggefährten aus früheren Jahren wieder reanimieren und reaktivieren. Hanns Hein litt nämlich seit einem Vorfall 1991 am Gran Paradiso, den einige von uns miterlebt haben, an einem Trauma, was die Berge bzw. das Bergsteigen angeht. Dieses Trauma mußte doch einmal überwunden werden.
So kommen wir spätabends am 17. Juni mit Schneeschuhen bewaffnet auf der unbewarteten Vignetteshütte an. Dort werden wir drei Tage lang fast allein sein, auf einem herrlich inmitten arktischer Gefilde gelegenen Stützpunkt. Der nächste Tag entpuppt sich gegen unseren Willen wegen dichten Nebels als Ruhetag. Er vergeht mit Holzhacken, Feuern, Kochen und Lesen. Am kommenden Tag steht die Pigne d´Arolla bei herrlichem Wetter, allerdings mühsamem Tiefschnee, auf dem Programm: Ein exzellenter Aussichtsberg. Man konnte bei wunderbarer Fernsicht etwa 40 Viertausender ausmachen. Von der Hütte hat man seine Wand immer vor Augen. Dieses Phänomen ließ Hanns Hein immer neue Argumente gegen unser Vorhaben und für den Verzicht auf die Besteigung finden, zumal auch der Abstieg noch ein großes Fragezeichen darstellte. Am Spätnachmittag tauchen Engländer auf der Hütte auf. Einige von ihnen wollen auch die bewußte Wand machen. Da können wir uns natürlich nicht lumpen lassen. Ich lasse allerdings ein Hintertürchen offen: "We will try the face, too." Am nächsten Morgen sind die Engländer schon beim Abmarsch, als wir aufstehen. Nach etwas kaltem Tee und einer Spur eiserner Ration, den letzten Lebensmitteln, die uns nach einem Zusatztag zu unserem ursprünglichen Zeitplan verblieben waren, brechen auch wir eine Stunde später auf.
Gleich hinter der Hütte brechen wir knietief in den Harsch ein. Sobald es geht ziehen wir die Schneeschuhe an. Vorher aber fällt mir in der Finsternis ein Skistock in die Tiefe, nach mühsamem Abstieg und Wiederaufstieg überrascht Hanns Hein mich mit dem ernstgemeinten Vorschlag: Sollen wir nicht nach diesem schlechten Omen wieder zurück? Ich muß gestehen, ein sehr verlockender Vorschlag. Aber im hintersten Hirnwinkel regt sich Widerstand, es geht weiter! Als es dämmert, sehen wir drei der Engländer sich unter und am Bergschrund zu schaffen machen. Unser Auftrieb wächst. Die Briten sind lange mit dem Bergschrund beschäftigt. Als wir dort ankommen, finden wir eine ziemlich ramponierte Brücke vor. Hanns Hein schafft noch soeben den Übergang, bis die ganze Herrlichkeit direkt unter ihm zusammenbricht. Ich ziehe ihn am dargereichten Pickel ans sichere Ufer.
Die Verhältnisse in der Wand sind vorzüglich, zumal wir von den Engländern gute Stufen und Standplätze vorfinden, wenn auch die Steilheit im Flaschenhals 60° sein dürfte, so haben wir doch keine Probleme. Bald sind wir zu den Briten aufgelaufen. Diese mühen sich redlich ab, besonders in Gipfelnähe müssen sie ganz schön wühlen, und am meisten Graham, der Schotte im Trio: "He is the most heavy man with the smallest feet."
Am Gipfel bei strahlendem, aber viel zu warmem Wetter erhebt sich das große Fragezeichen: Wie und wo hinunter? Von der Hütte aus hatte ich mir schon reichlich Gedanken über diesen Punkt gemacht und eine überwiegend nicht einsehbare Rinne als möglichen Abstiegsweg ausgemacht. Aber diese Rinne bietet auch von oben, nämlich aus der Scharte zwischen West- und Ostgipfel, in die wir uns heikel über tiefverschneite Felsen und lawinenträchtige Faulschneequerungen geschwindelt haben, keinen Aufschluß darüber, wie und wo sie ausläuft. Die Engländer ziehen den im Führer als Normalabstieg angegebenen Gully vor. Ich vertraue auf meinen Instinkt und mein Glück und wähle die entgegengesetzte Seite, die nach Norden.
Es wird ein Abstieg rückwärts bei glücklicherweise bestem Trittfirn, der aber auch höchste Schneebrettgefahr bei der herrschenden Hitze signalisiert. Der Gully wird immer steiler, steile gar als der Aufstieg, windet sich gegen Ende immer enger werdend wie eine Bobbahn zwischen Felsmauern hin und her. Wir sind auf Gedeih und Verderb dieser Rutschbahn ausgeliefert. Ab und zu gehen auch schon rechts und links in Sekundärrinnen Schneerutsche nieder. Einmal heißt es sich an die Begrenzungsmauer werfen, als zwei bis drei kopfgroße Steine vorbeispringen, von denen einer noch meinen Schuhabsatz kratzt. Aber dann entlädt sich meine Anspannung und Ungewißheit in einem Jubelschrei nach oben zu Hanns Hein, als ich feststellen kann, daß unsere Rinne unterhalb eines gutmütigen Bergschrundes in einem Lawinenkegel ausläuft. Der Gedanke an ein Foto von Hanns Hein ca. 80m über mit wird zugunsten des zügigen Abstieges verworfen - ein Glück wie sich bald herausstellen wird.
Ein beherzter Sprung über den Bergschrund läßt mich aufatmen, aber nun für Sekundenbruchteile, in denen ich mich aus dem pappigen Lawinenschnee befreien kann. Ein Rauschen über mir, ein Sprung unter die Deckung des Bergschrundes, eine Verfinsterung, ein Überrieseln von Schnee, ein Laut des ungläubigen Erstaunens. Der Spuk ist vorbei, aber wo ist Hanns Hein? Noch oben? Nein, unten muß er sein! In der Tat: Etwa 400m unter mir krabbelt er aus dem Schneebrockenchaos, wie ein Maulwurf oder Maikäfer heraus und schüttelt sich wie ein nasser Hund.
"Alles in Ordnung?" Ja! Große Erleichterung, renne runter, lese unterwegs seine Brille auf. Befreiendes Gelächter. Er ist zwar verschrammt, etwas geschunden, etwas geprellt, seine Kappe ist weg aber sonst o.k.. Ich kann mir eine Bemerkung nicht verkneifen: "Das war das Beste, was Dir passieren konnte, so blieb Dir der Sprung über den Bergschrund erspart." Weiß ich doch, daß er in solchen Situationen große Probleme hat. Ja, wer den Schaden hat ....!
Möglicherweise haben wir sogar eine neue Route im Abstieg begangen? Aber das ist jetzt zweitrangig.
Bei klarer Überlegung haben wir schon einen guten Schutzengel gehabt. Was wäre z.B. gewesen wenn:
Das Schneebrett uns weiter oben erwischt hätte
Wir langsamer gewesen wären
Wir dicht zusammen gewesen wären
Wir gar am Seil gegangen wären
Steine mit dem Schnee herunter gekommen wären ...?
Mühselig queren wir durch weichen Tiefschnee zu unserem Schneeschuhdepot. Es folgt ein anstrengender Gegenanstieg bei sengender Hitze zur Hütte. Mache etwas zu trinken, gehe Hanns Hein entgegen, der natürlich platt ist. Die Engländer trudeln erst etwa 2 1/2 Stunden später ein; sie hatten sich noch versteigen.
Graham, unser Schotte taumelt "Totally exhausted" die Treppe hoch. Auf die Frage: "Was it a hard day?" stößt er ächzend hervor: "Yes, it was a very hard day!"
Dann schlägt er sich im Vorraum der Länge nach hin.
Übrigens entpuppte sich der Führer der Dreier-Seilschaft - Martin Moran - als einer der beiden Engländer, die im schlechten Bergsommer 1993 sämtliche Viertausender der Alpen gemacht hatten; ein sehr sympathischer Mensch.
Abends im Tal wurde Hanns Hein noch von einem bösen Schüttelfrost befallen, eine Folge seines allzu schnellen Abganges vom Petit Mt Collon, aber vor allem wohl seines stundenlangen Gehens in der prallen Sonne ohne Kopfbedeckung.
Nichtsdestoweniger feierten wir den glücklichen Ausgang unseres Unternehmens "Petit Mt Collon Nordwand" mit einigen Runden Trappistenbier der Marke "Chimay".
Aber bevor mir dann die Augen zufallen, fällt mir noch das tibetische Sprichwort ein: "Es ist besser, einen Tag als Tiger gelebt zu haben, als 1000 Jahre als Schaf".