Die Kurztour für das verlängerte Fronleichnam-Wochenende führte uns dieses Jahr für vier Tage nach Italien in die Brenta-Gruppe. Es nahmen Rudi Berners, Christoph Künstler, Gerd Schilles und ich teil. Nach über 10-stündiger Nachtfahrt kamen wir morgens in Madonna di Campiglio (1522 m) an.
Von Vallesinella, daß in einem nahen Seitental von Madonna di Campiglio lag, stiegen wir gemütlich zur 2120 m hoch gelegenen Brentei-Hütte auf. Nach 3 Stunden erreichten wir die Brentei-Hütte. Die verschlossenen Fensterläden der Hütte machten mir klar, daß die Kletter- und Wandersaison noch nicht begonnen hatte. So machten wir es uns in der 3 mal 6 m großen Nothütte bequem. Sie war mit einem Gußofen, Tisch und Bänken, sowie einer Schlafgelegenheit unterm Dach ausgerüstet. Holz zum Heizen war ausreichend vorhanden. Mäuse waren außer uns die einzigen Bewohner der kleinen Hütte. Sie nahmen nachts freimütig am Hüttenleben teil. Nur eine unter die Decke gehängte Holzkiste konnte sie von unseren Lebensmitteln fernhalten.
Bekannt ist die Brenta-Gruppe durch das Dolomit-Gestein und durch die bis zu 600m steil abfallenden Felswände, deren Gesteinsschichten bis auf einige Verwerfungen horizontal verlaufen. Manche dieser Gesteinsschichten werden als Klettersteige benutzt. In Bergführern werden sie auch als Felsbänder bezeichnet, weil sie sich wie ein Band um den Berg schlingen. Im Frühjahr oder Frühsommer sind die Felsbänder aufgrund der Schneereste des letzten Winters nicht begehbar. Daher ziehen viele Bergsteiger die reinen Frühsommertouren vor, wie zum Beispiel die Cima-Tosa-Nordeisrinne, auf itatienisch Canalone Cima Tosa genannt.
Die Tosa-Rinne ist mit einer Wandhöhe von 850 Metern eine der längsten Eisrinnen in den Alpen und eine, die soweit südlich nicht zu erwarten wäre. Sie hat eine Durchschnittsneigung von etwa 45- 50° und man erreicht den höchsten Gipfel der Brenta-Gruppe, den Cima-Tosa (3173 m), laut Führer bei günstigen Verhältnissen nach 3-5 Stunden.
Von unserer Hütte konnten wir die Tosa-Rinne gut einzusehen, da sie sich auf der anderen Talseite befand. Während wir uns die Rinne ansahen, entschied sich Rudi, der mit einer mittelschweren Erkältung zu kämpfen hatte, am nächsten Tag auf der Hütte zu bleiben. Wie sich später herausstellte, eine richtige Entscheidung.
Die 30 bis 50 m breite Eisrinne, die rechts von der berühmten „Kante" des Crozzon di Brenta flankiert wird, machte auf mich einen gewaltigen Eindruck. Die Eisrinne war bis auf zwei, ziemlich nah zusammenliegende Blankeisflächen mit Schnee bedeckt. Ich sah mir die Rinne mit gemischten Gefühlen an, auch weil ich bisher nur wenig Erfahrung im Eis hatte. Ein letztes Urteil wollte ich mir für den nächsten Morgen am Einstiegspunkt aufheben.
Gegen 5 Uhr morgens wurde Christoph auch ohne Wecker wach, und weckte uns. Wir packten unsere Sachen und erreichten nach einer ¾ Stunde gegen 6 Uhr den Einstieg am Crozzongletscher (2330 m). Schon jetzt konnten wir die Tosa-Rinne in ihrer ganzen Länge hinaufblicken. Rechts und links stiegen die Felstürme fast 800 m senkrecht empor. Doch schon bald versperrte uns der vom Tal aufsteigender Nebel diesen gewaltigen Anblick. Wir schnallten uns die Steigeisen unter und legten unsere Gurte an. Die letzten Zweifel des Vortages waren nicht ganz, aber zum größten Teil verschwunden.
Die ersten 150 Höhenmeter hatten wir schnell hinter uns gebracht. Nach und nach wurde die Rinne enger und steiler. Nach etwa 300 Höhenmetern erreichten wir auf festem Firn die Schlüsselstelle. Die Neigung war von 45° auf über 50° angestiegen. Die Rinne wurde hier von zwei großen, schräg zueinander versetzten Blankeisflächen versperrt. Unter einem Felsvorsprung auf einem schmalen Band machten wir kurz Rast, um zu überlegen, wie diese Schlüsselstelle am besten zu passieren ist. Es gab zwei Möglichkeiten, die Blankeisflächen zu umgehen.
Die erste Möglichkeit war, links zwischen Felswand und Blankeis hochzusteigen. Die zweite Möglichkeit war, zwischen den beiden Blankeisflächen die Rinne diagonal zu queren. Nach den Spuren im Schnee zu urteilen hatte eine früherer Gruppe sich für die erste Variante entschieden.
Christoph entschied sich für die zweite Variante, da sie uns schneller den Blick nach oben, auf herabstürzende Steine verschaffte und in einem solchen Fall bessere Ausweichmöglichkeiten bot. Da der Schnee griffig war und wir auf zeitraubende Sicherungen verzichten konnten, passierten die schwierige Passage sehr schnell.
So erreichten wir schon bald wieder die Spuren unserer Vorgänger. Sie waren für uns nur keine große Erleichterung, da sie vom Schnee meistens verweht waren. Je höher die Sonne am Himmel stieg, um so stärker fielen die Sonnenstrahlen in die schmale Rinne ein. Die starken Temperaturunterschiede verursachten im Gestein hohe Spannungen, die sich zunehmend in Form von Steinschlag bemerkbar machten. Wir hatten die Blankeisstelle zum Glück früh genug passiert, als hinter uns eine Steinlawine von den Felswänden herabstürzte.
Im oberen Drittel wurde aufgrund der ansteigenden Temperaturen der Schnee immer sulziger und wir sanken immer tiefer ein. Nachdem wir noch zweimal herabrollenden Steinbrocken ausweichen mußten, erreichten wir nach 4 ¾ Stunden erleichtert den Gipfel. Gerd mußte kurz vor dem Ende der Rinne mit ansehen, wie seine Mütze die gesamte Rinne hinunter rollte.
Vom nahezu ebenen Gipfelplateau versperrten uns vorbeiziehenden Wolken die Aussicht. Starker kalter Wind hielt uns davon ab, hier oben länger Rast zu machen, und so beschlossen wir, den Abstieg zu beginnen.
Wie im Bergführer beschrieben, mußten wir eine flache Mulde durchqueren, um später den Steinmännchen folgend über Felsbänder nach Südosten abzusteigen. Beim zweiten Steinmännchen eröffnete sich uns der Blick ins Tal zum Tosagletscher. Wir beschlossen, über das vor uns liegende ca. 45° steile Schneefeld weiter abzusteigen.
Auf etwa 3100 Metern ü. NN. erreichten wir einen kleineren Felsen, der aus dem Schneefeld herausragte. Die von uns erhofften Steinmännchen fanden wir nicht. Dies verunsicherte uns. Tiefziehende Wolken verschlechterten zunehmend die Sicht. Von unserem Standpunkt sah der vor uns liegende Felsabbruch so gewaltig aus, daß wir annehmen mußten, daß dies nicht der im Führer beschriebene 60-Meter Abbruch sein konnte. Nach erneuten Studieren des Führers und der sehr ungenauen Karte beschlossen wir gegen 14 Uhr, bis zum ersten Steinmännchen zurückzusteigen.
Als wir an diesen Punkt angekommen waren, fanden wir uns plötzlich von Wolken eingeschlossen. Als Orientierung dienten uns in dieser Phase nur unsere eigenen Schneespuren und mein Kompaß. Die Sicht war mittlerweile auf nur 5 Meter zurückgegangen. Trotzdem gaben wir die Suche nach dem richtigen Abstieg nicht auf.
Wie im Bergführer beschrieben stiegen wir in Verlängerung der Steinmännchen weiter östlich über Felsbänder ab, in der Hoffnung weitere Anzeichen für die Abstiegsroute zu finden. Jeder Versuch endete jedoch vor einem Felsabbruch, wo man aufgrund der geringen Sichtweite nicht abschätzen konnte, ob er 50 Meter oder 500 Meter tief war. Nach 3 Stunden fanden wir ein Felsband, daß Anzeichen für Wegspuren bot. Zwei Dosen machten uns sicher, nicht ganz falsch zu sein. Etwas später fanden wir zwei Steinmännchen auf einem 30 Meter tiefen Abbruch. Wir stiegen ab und befanden uns nun auf einem weiteren Felsband. Jetzt mußten wir nur noch den im Führer beschriebenen 60 Meter tiefen Kamin finden. Auf dem Felsband fanden wir schließlich einige dieser Kamine. An zwei markanten Kaminen kletterte ich ab, während Christoph mich sicherte. Ohne Erfolg.
Mittlerweile war es 18 Uhr, die Temperatur fiel und es fing an zu schneien. Wir beschlossen zu warten, bis die Sicht besser würde. Währenddessen begannen wir damit, uns in einer mit Schnee zugewehten Felsspalte ein Biwak zu bauen. Es war so groß, daß es für uns drei genügend Platz bot. Nachdem wir die Öffnung mit einem Poncho verschlossen hatten, bot Sie uns einigermaßen Schutz vor Schnee und Wind. Trotzdem froren wir. Unsere Kleider und Schuhe waren durchnaß. Lediglich Christophs Kunststoffschuhe waren noch einigermaßen trocken geblieben.
Gegen 20 Uhr klarte es zum ersten Mal für einen kurzen Moment auf. Nun konnten wir sehen, wo wir uns befanden. Unser Standpunkt war nur etwa 50 Meter von dem Punkt entfernt, an dem wir beim ersten Male umgekehrt sind. Die Spuren im Schnee zeigten, daß wir uns im Kreis bewegt hatten, jedoch auf dem richtigen Weg waren.
Eine Wetterbesserung war nicht in Sicht. Wir waren mit einen 1- und einen 2- Personen Biwaksack ausgestattet. Darum hielten wir es für das Beste, die Nacht auf 3000 Meter Höhe zu verbringen und den Abstieg erst am frühen Morgen zu wagen.
Für alle, auch Rudi, der im Tal ohne jede Information über den Verlauf der Tour wartete, wurde es eine lange Nacht. An Schlaf war unter diesen Umständen nicht zu denken. In dem 2-Personen Biwaksack versuchten Gerd und ich uns gegenseitig zu wärmen. Ein ständiges Zittern vor Kälte begleitete uns die ganze Nacht. Dadurch, daß es im Biwaksack wärmer war als außerhalb, kondensierte die Feuchtigkeit an den Innenwänden. Die Nässe sammelte sich am Boden und zog immer mehr in die schon ohnehin nasse Kleidung ein. Die ledernen Bergsteigerschuhe von Gerd und mir hielten der Nässe schon seit einigen Stunden nicht mehr stand. Lediglich Christophs Kunststoffschuhe konnten Feuchtigkeit widerstehen. Das Thermometer sank in der Nacht unter Null Grad Celsius.
Als es gegen 4 Uhr hell wurde, machten wir uns klar für den Abstieg. Die Sicht war wieder gut und die Bewegung erwärmte schnell unsere gefrorenen Glieder. Wir stiegen bis zu der Stelle, wo wir das erste Mal umgekehrt waren und von dort weiter bis zum Felsabbruch. Hier fanden wir den beschriebenen Abstieg. Wir seilten uns an dem etwa 60 Meter hohen Kamin in Etappen ab und erreichten nach Überqueren des Tosagletschers gegen 9 Uhr die Pedrotti-Hütte.
Etwa 1 km vor der Brentei-Hütte kam uns Rudi entgegen. Er hatte sich sofort, nachdem er von Wanderern erfahren hatte, daß wir nicht auf der Pedrotti-Hütte übernachtet hatten, auf den Weg gemacht, um uns zu suchen.
Wir trockneten unsere Sachen in der Sonne und Rudi versorgte uns mit einem guten warmen Essen. Nach der letzten Nacht hatten drei von uns das Bedürfnis nach einem warmen Bett. So stiegen wir ab ins Tal und fuhren bis etwa Kufstein, wo wir in einer Pension übernachteten. Bei einem großen Radler und einem guten Essen sprachen wir über unsere Erfahrungen am Cima Tosa.