Na toll. Da hatte sich mein neuer Kumpel gerade genug Zeit genommen um mich hemmungslos mit dem Felsvirus zu infizieren, bevor er für ein ganzes Jahr mit Erasmus auf nach Italien entschwand. Und jetzt? Wer nahm mich Frischling nun mit zum Felsklettern und passte darauf auf, dass ich mich nicht in ahnungslosem Eifer selbst massakrierte? Denn eins war sicher: Ohne Klettern geht es nicht mehr. Noch am selben Tag werde ich Mitglied der Sektion Schleiden-Eifel.
Weiter muss ich eigentlich gar nichts tun. Mit liebevoller Penetranz werde ich, damals schon stolze 22 Jahre, für die Jugendgruppe rekrutiert. Hier lernen Sven und ich uns kennen und vollbringen, im Bestreben uns gegenseitig zu beeindrucken, einige unserer heldenhaftesten Taten. Nach und nach werden die ersten Traditionen geboren, unter ihnen das Warten auf den Südgrat.
Sieben Jahre später. Manche Dinge ändern sich nie. Wie so oft im Sommer, wenn die Sonne lacht und der Fels ruft, machen Sven und ich uns auf den Weg ins Altmühltal, wo es kompakten Kalk und gutes Bier gibt. Es müsste so ungefähr das fünfte Mal sein, dass wir in Konstein sind. Das fünfte Mal, dass wir Tag für Tag vor dem eindrucksvollen Dohlenfelsen stehen, der wie eine zerklüftete, gezackte weiße Haifischflosse aus dem Meer von Bäumen in die Weidelandschaft ragt. Der Dohlenfelsen ist der vielleicht traditionsreichste Felsen im ganzen Altmühltal, ein eindrucksvolles Kalkriff von ca. 50m Höhe. Kaum eine Altmühltaler Postkarte, die auf dieses bemerkenswerte Motiv verzichtet. Seine Südflanke besteht aus kompaktem Gestein, leicht überhängend mit dunklen Spitzen, die wie von der Sonne versengt wirken. Der Routenspiegel mit Schwerpunkt im achten Grad wirkt ebenso eindrucksvoll wie die Felsformation selbst. Den heldenhaften Tagen unserer Jugend entwachsen wartet hier seit Jahren noch eine Tat auf uns. Ungebrochen ist unser Wille, einmal oben auf dem Riff zu stehen, oder unter dem Gipfelkreuz zu sitzen und über die grüne Landschaft zu blicken. Der Südgrat soll es sein, der von der Spitze der Flosse immer knapp unterhalb der Kante von Zacken zu Zacken verläuft. Ob wir es diesmal wohl durchziehen, oder ob es wieder zu nass, zu heiß, zu anstrengend ist?
Erst einmal akklimatisieren wir uns an den zahlreichen kleinen Formationen, die überall im Wald verstreut stehen und auch bei mäßigem Wetter gut nutzbar sind. Wir treffen alte Freunde, bejubeln den Sieg der deutschen Nationalmannschaft über Frankreich im Viertelfinale, genießen die regionale Küche und lassen es uns gut gehen. Nebenbei fahren wir jeden Tag am Dohlenfelsen vorbei und sagen uns: „Den Südgrat, den müssen wir mal klettern.“
So vergehen die Tage und das Ende unseres Urlaubs ist nahe. Morgen werden wir wieder in den Alltag zurückkehren müssen. In unserem Kletterführer sind viele neue Häkchen dazugekommen, nur die Seite mit dem Dohlenfelsen ist noch immer traurig kahl.
Das Wetter ist perfekt, trocken, sonnig, nicht zu warm. Andere Seilschaften haben wir schon lange keine mehr gesehen. Wir fassen uns ein Herz. Wir machen uns auf zum Südgrat.
Genau an der Spitze des Riffs beginnt unsere Tour. Wir folgen der mal senkrechten, mal leicht überhängenden Kante über mehrere Stufen in die Höhe. Nach den ersten abgespeckten Metern wird der Fels immer besser. Die Sonne im Rücken klettern wir zum Teil unter das Blätterdach der schattigen Nordseite und wieder daraus hervor. Der erste Standplatz ist schnell erreicht. Herrlich. Zu Recht gilt diese Tour als Klassiker. Der weitere Routenverlauf ist etwas komplizierter. Mal links, mal rechts an den Zacken entlang kämpft Sven sich hinauf, legt hier einen Friend, da einen Keil oder eine Schlinge über eine Felsspitze. Die letzte Verzweigung steht an. Ich merke, wie mein Vorsteiger zögert. Auf der Südseite erstreckt sich die glatte aber leicht liegende Felsflanke, die Nordseite folgt zwei Meter einem überhängenden Riss. Der letzte Sicherungspunkt liegt schon ein wenig zurück. Statt der einfacheren Variante über die Platte wählt er die kräftige Rissspur. Damit hebt er unsere Route aus dem entspannten fünften Grad in den kräftigen sechsten. Souverän, als wäre nichts dabei, verklemmt er Hände und Füße und erreicht wenig später den Standplatz. Ich folge Sven durch seinen Gipfelslalom, genieße die Sonne, den warmen Kalkstein unter meinen Fingern und die Fernblicke. Dann stehe auch ich vor der letzten Gabelung. Hm, Risse und ich, nicht wirklich eine Liebesgeschichte. Sehnsüchtig betrachte ich die sonnige Kalkplatte, dann den schattigen Riss. Seufzend folge ich dem Seilverlauf, versuche mich vor den Klemmgriffen zu drücken und piaze so lange es irgend geht an der Kante des Risses entlang. Piazen, das ist noch schöner als Plattenschleichen! Leider ist die Kante nicht bis zum Ende spitz genug. Um einen Faustklemmer komme ich nicht herum, greife zu, bibbere. Ein unbehagliches Gefühl, so ins Nichts zu greifen. Meine Faust scheint zu halten. Die Ballen drücken sich zu beiden Seiten gegen die rauhen Felskanten und ich kann mich tatsächlich nach und nach mit meinem gesamten Gewicht so in den Riss hängen. Schon kann ich die obere Felskante fassen und luge über den Rand. Geschafft. Dicht aneinandergekuschelt sitzen Sven und ich auf dem winzigen Plateau auf dem Dohlenfels, direkt unter dem ersten Gipfelkreuz und blicken auf das grüne Altmühltal zu unseren Füßen. Endlich. Eine zauberhafte, fast unwirkliche Stimmung. Selbst Sven ist bewegt, das kann ich an seinen Augen ablesen. Aber da ist noch mehr. Er strahlt mich an. Und dann hält er hier, auf diesem winzigen, wunderbaren Fleckchen um meine Hand an.
Ist das nun das Ende oder der Anfang der Geschichte? Vielleicht ein bisschen von Beidem. Auf alle Fälle ist es eine neue heldenhafte Tat. Da hat es sich doch gelohnt, das Warten auf den Südgrat.