Die Silvretta-Hochtourenwoche begann mit Sonnenschein, als wir, Stefan Walber und ich, am Mittwoch, dem 22. Juli um 17:00 Uhr mit dem Auto auf der Biehlerhöhe ankamen. Von hier aus war der etwa zweistündige Aufstieg zur Wiesbadener Hütte, die der Ausgangspunkt für unsere Touren sein würde, zu Fuß zurückzulegen. Doch schon nach 200 Metern entlang des Silvertta-Stausees, an dessen Ufer man etwa 10 Minuten eben entlangwandert bevor man aufsteigt, zog es sich zu, und innerhalb kürzester Zeit war jedes Fleckchen blauen Himmels verschwunden. Etwa zeitgleich begann es zu regnen.
Anders als erhofft, wurde der Regen stärker, und als wir die ersten Höhenmeter durch das Ochsental hinter uns gebracht hatten, befanden wir uns in einem handfesten Gewitter. Eine Möglichkeit sich unterzustellen gab es nicht, und da wir in einer Umgebung, die auf 2200 Meereshöhe aus Felsen und Geröll besteht, deutlich exponiert waren, waren wir dem Gewitter unmittelbar ausgesetzt.
Um etwa 18:30 Uhr erreichten wir die Wiesbadener Hütte. Unser Gepäck und wir waren komplett durchgeweicht, und dem perfekt gestalteten Trockenraum der Wiesbadener Hütte haben wir es zu verdanken, dass wir die Tourenwoche überhaupt fortsetzten konnten. Martin und Gregori trafen wir beim Abendessen.
Offiziell sollte die Tourenwoche am Donnerstagabend beginnen, aber wir vier Teilnehmer, Martin Boekholt mit seinem Sohn Gregori, Stefan Walber und ich waren schon einen Tag bevor unser Tourenleiter Erwin Olligschläger ankam, angereist. Anders als Martin und Gregori, die bereits mittags an der Hütte angekommen waren, waren Stefan und ich von Bad Münstereifel so spät aufgebrochen, dass wir zehn statt der geplanten sechs Stunden auf der Autobahn verbrachten.
Der Donnerstag begann so trüb wie der Mittwoch geendet hatte. Der Regen hatte zwar in der Nacht aufgehört, aber insgesamt war keine Wetterbesserung in Sicht. Wenn man dem Wetterbericht glaubte, den ich noch zu Hause für diese Region eingeholt hatte, würde das auch die nächsten Tage so weitergehen. Sollten wir die Tourenwoche komplett auf der Hütte verbringen? Das wollten wir auf keinen Fall, und so beschlossen wir vier trotz des schlechten Wetters, diesen Tag vor dem offiziellen Tourenwochenbeginn nicht tatenlos zu verbringen.
Mit der Absicht, einen Teil der Tour, die Erwin für Freitag zum „Aufwärmen“ geplant hatte, auszuprobieren, brachen Gregori, Martin, Stefan und ich in Richtung „Hohes Rad“(2934 m) auf. Wegen des schlechten Wetters würden wir höchstens die erste Etappe der Tour absolvieren können. So würden wir Erwin nicht zu sehr in seinen Plan pfuschen.
Wir hatten nicht mit den Überraschungen gerechnet, die das Wetter in der Nähe des Alpenhauptkammes zu bieten hat: Es besserte sich im Lauf des Tages mehr und mehr, und wir erreichten bei Sonnenschein den Radsattel (2652 m).
Später kam Nebel auf, der sich aber auf dem Weg durch die Nordostflanke wieder verzog, und schon waren wir im letzten Teil des Gipfelanstiegs – etwa 20 Minuten leichte Kletterei. Wir waren da angelangt, wo wir eigentlich an diesem Tag noch gar nicht hinwollten, auf dem Gipfel des „Hohen Rades“. Hier empfing uns ein nahezu wolkenloser Himmel. Das Erstaunlichste aber war, dass ausgerechnet auf dem hier absolute Windstille herrschte.
Beim Abstieg trennten wir uns. Während Martin, Gregori und Stefan zur Wiesbadener Hütte abstiegen und sich für den Nachmittag eine Tour in der Nähe der Hütte vornahmen, stieg ich über die Nordwestseite des Hohen Rades zur Biehlerhöhe ab.
Bergsteigern, die eine Alternative zum Abstieg von der Wiesbadener Hütte über den Fahrweg suchen, kann ich diese Tour empfehlen. Inklusive des Aufstiegs auf das Hohe Rad muss man einen guten halben Tag einplanen. Auch wenn man den Gipfel weglässt, ist es eine schöne Variante. Ein wenig unangenehm ist allerdings eine Gegend mit großem Blockwerk, für die man etwa 20 Minuten einrechnen muss.Auch der Rückweg von der Biehler Höhe zur Wiebadener Hütte am selben Tag war zeitlich noch gut zu schaffen.
Am späten Nachmittag waren wir alle wieder auf der Hütte, und zum Abendessen traf Erwin ein und stellte uns vor, was er für die Woche geplant hatte.
Am Freitag brachen wir um 8:00 Uhr zum Vermutt-Gletscher, dem der Wiesbadener Hütte am nächsten gelegenen Gletscher auf. Dort kam zum ersten Mal unsere Hochtorenausrüstung zum Einsatz – Steigeisen, Pickel, Helm, Seil. Nach dem Aufstieg über den Gletscher machten wir in der Oberen Ochsenscharte erste Übungen zur Spaltenbergung im Firn, und nach einer kurzen Mittagsrast dann, etwas weiter unterhalb, am Rand der unteren Ochsenscharte auch am Blankeis.
Das Wetter an diesem Tag folgte einem Schema, das für den Rest der Woche bestimmend sein sollte: Trüber Tagesbeginn – aufklaren – Sonnenschein um etwa 12:00 Uhr Mittags, danach wieder Eintrübung und nachts unbeständig. Bisweilen regnete es sogar die halbe Nacht durch.
Um 15:00 Uhr kehrten wir zur Hütte zurück, wo nach dem Abendessen Knotenkunde auf dem Programm stand, die Knoten, die man für die Spaltenbergung braucht: Ankerstich, Sackstich, Achterknoten, Halbmastwurf, Mastwurf, Prusikknoten.
Am Samstag stiegen wir über den Tiroler Gletscher zur „Tiroler Scharte“ (2935 m) auf. Den „Ochsenkopf“ (3057 m), den man von der Tiroler Scharte aus hätte besteigen können, umgingen wir. Wir ersparten uns der Aufstieg über von durch Geröll und Sand durchsetzten Firn. Hier wäre man mehr gerutscht als gestiegen – zwei Schritte vor, einen zurück. Im weiteren Verlauf sollten wir aber auch ohne Gipfel noch auf unsere Kosten kommen.
Die Spaltenbergungsübungen, die wir dann an der Tiroler Scharte am späten Vormittag machten, fanden in zwei Österreichischen Bundesländern statt. Während die Spaltenberger und Retter des einen Spaltensturz simulierenden in Vorarlberg agierten, ließ sich das Sturzopfer über die Kante nach Tirol fallen, um nach seiner simulierten „Rettung“ wieder glücklich auf Vorarlberger Boden, bzw. Firn, anzukommen.
Wettermäßig wieder das gleiche Spiel: Trüber Tagesbeginn – später Sonnenschein.
Von der Tiroler Scharte aus ging es über Blockwerk und Blankeis zum Jamtalferner, der sich auf der Tiroler Seite weit Richtung Osten und Nordosten erstreckt. Die Tiroler Nordostseite des Grates bot bei dieser Wetterlage atemberaubende Einblicke in eine düstere Bergwelt: Matt bläulich bis violett scheinende Spaltformationen in der Ferne. Unwirklich und wild. Eine dieser Spaltenformationen sah aus wie eine teils im Schnee begrabne Riesenechse, die auf ihr Erwachen Am Jüngsten Tag wartet.
Am Rande des Jamtalferners stiegen wir von Nordosten zur Oberen Ochsenscharte auf, die wir am Vortag von der anderen Seite erreichten. Hier wurde die Tücke der Gletscherspalten offenbar. Erwin brach kurz mit einem Fuß ein. Kein Darma, nur eine relativ kleine Spalte, aber von außen komplett unsichtbar weil mit Schnee bedeckt. Gefährlich sind nicht die spektakulär erscheinenden offenen und weiten Gletscherspalten. Niemand, der bei Verstand ist, tritt absichtlich in eine Spalte, die er sieht. Tückisch sind die anderen, die mit Schnee bedeckten, weil man keine Chance hat, die von außen zu erkennen. Am Nachmittag stiegen wir, wie am Vortag über den Vermuttgletscher zur Wiesbadener Hütte ab und hatten so eine Runde um den Ochsenkopf gemacht.
Der Sonntag war der Höhepunkt der Tourenwoche. Um etwa 7:30 Uhr brachen wir Richtung Piz Buin auf, den mit 3312 Metern höchsten Gipfel der Region.
Zuerst noch seilfrei querten wir die Gegend unterhalb der „Grünen Kuppe (2579m)“ westwärts. Vereinzelt deuteten sich hier schon Gletscher-Reste an – von grobem Geröll durchsetzte, grau und schmutzig wirkende Eisfelder, die mit eisfreien Stellen aus Blockwerk wechselten. Es war nicht ganz einfach zu entscheiden, ob es hier sinnvoll war, Steigeisen einzusetzen oder nicht. Das und der Grad der Hangneigung der Eisfelder Richtung Norden waren Grundlage der Entscheidung, ob es sinnvoll war die Eisfelder zu überqueren oder zu umgehen.
Im weiteren Verlauf wurden die schmutzigen Bereiche weniger und wichen Gletscherzungen aus sauberem Firn. Am westlichen Rand des letzten Ausläufers des Ochsentaler Gletschers seilten wir an.
Ab hier begann unser Aufstieg Richtung Süden und damit Richtung Gipfel. Wir durchstiegen eine größere Region aufgeaperten Gletschers: Ein Bereich in dem größere und kleinere Spalten sichtbar waren und überquert werden mussten. Teilweise war es auch nötig, diese mit einem kleinen Sprung zu überwinden. Die offenen Spalten eröffneten die Möglichkeit, in die blau schimmernden Tiefen des Eises zu blicken und eine Ahnung von den Dimensionen dessen zu bekommen, was unter unseren Füßen lag. Eine weitere Faszination, die die Bergwelt hier für uns bereithielt. Einsehbarkeit und Sichtbarkeit der Spalten vermindern die Gefahr von Spaltenstürzen. Auch hier aber lauern Gefahren. Eine der größten hat meiner Meinung nach gerade mit der Faszination zu tun, die von offenen Spalten ausgeht: Durch das Schauen und die Beschäftigung damit, was unter einem liegt, kann man schon mal die horizontale Komponente der Seilsicherung vergessen, denn es ist unbedingt notwendig, das Seil zwischen den Mitgliedern der Seilschaft straff zu halten.
Irgendwann war auch diese Spaltenregion überwunden und der letzte, flacher auslaufende Teil des Gletschers lag vor uns – wieder eine neuer Eindruck erhabener Schönheit: In der Sonne glänzend weißer Firn und darüber wie sauber mit der Schere abgeschnitten das Blau des wolkenlosen Himmels oberhalb unseres nächsten Ziels, der Buinlücke. Dieser Teil einer Gletscherwanderung löst in mir immer das tiefe Gefühl von Geborgenheit aus – eine Illusion vom Einswerden mit der Natur in gleißendem Licht.
Wir erreichten die Buinlücke (3054m) um etwa 11:30 Uhr. Von hier aus begann der letzte Teil des Aufstiegs, die Besteigung des Gipfelkegels des Piz Buin. Zunächst waren Trittspuren vorhanden, später ging es mit leichter Kletterei durch weglosen Fels. Da wir relativ spät dran und die meisten Bergsteiger schon beim Abstieg waren, kam uns in diesem Bereich eine Seilschaft nach der anderen entgegen. Sonntag und schönes Wetter – da wollen alle auf den Gipfel.
Wir hatten etwa ein Drittel des Gipfelanstiegs hinter uns, da traf Martin die Entscheidung, nicht mehr weiter zu gehen. Ständig absteigenden Seilschaften ausweichen zu müssen, war nicht das, was er sich vorgestellt hatte. Stefan, Gregori und ich wollten aber unbedingt weiter zum Gipfel. Erwin hinderte uns nicht daran, er hatte auch nicht viel Gelegenheit dazu, weil wir uns unverzüglich auf den Weg machten, bevor er es sich anders überlegte. Eigentlich war die Art und Weise, in der wir in der Situation agierten, nicht in Ordnung. Wir hätten Erwin zumindest Gelegenheit geben müssen, sich ausführlich zu unserem Vorhaben, zu dritt weiterzugehen zu äußern. Nachdem wir uns getrennt hatten, stieg Erwin mit Martin wieder in die Buinlücke ab.
Der letzte Teil des Gipfelanstiegs war ein großes Vergnügen: Unproblematische leichte Kletterei, die man gut seilfrei bewältigen konnte. Auf dem letzten Drittel des Kegels war die Kletterregion überwunden und auf einem Steig durch Geröll ging es zum Gipfel.
Dort erwartete uns eine atemberaubende Aussicht: Blauer Himmel, Windstille. Selten habe ich einen Gipfel erlebt, von dem aus man so viele unterschiedliche Ausblicke hat. Das Panorama zeigt die Bergwelt in allen Schattierungen: Weit im Südosten das wuchtige Gletschermassiv des Ortler, im Süden geht der Blick auf grüne Täler, direkt unterhalb des Piz Buin die Tuoi-Hütte, weiter unten bewaldetes Gebiet. Im Nordwesten steht der Glescher vor dem Silvrettahorn im gleißenden Sonnenlicht, tief unten im Norden der Silvretta-Stausee, und dann unmittelbar im Nordwesten das Wiebadener Grätle, hinter dem man die Wiesbadener Hütte ausmachen kann. Über das Wiesbadener Grätle führte noch vor einigen Jahren eine übliche Route zum Biz Buin. Durch den Rückzug des Gletschers und die Erwärmung, die das Eis, das die Steine zusammenhält schmelzen lässt, ist sie mittlerweile zu einer äußerst gefährlichen steinschlaggefährdeten Route geworden, die auf den neueren Alpenvereinskarten schon nicht mehr eingezeichnet ist.
Vom Gipfel des Piz Buin aus konnten wir die Routen aller Gletscher und Berge, die wir bisher durchstiegen hatten – Hohes Rad, Tiroler Gletscher, Ochsenkopf, Vermuttgletscher und Jamtalferner überblicken. Die Woche war von Erwin dramaturgisch perfekt durchkomponiert, so dass man diesen Augenblick als berauschende Zusammenfassung all unserer bisherigen Touren erleben konnte. Schade nur, dass wir diesen Moment nicht mit der ganzen Gruppe genießen konnten.
Was dann im Verlauf unseres Abstiegs vom Gipfel geschah, ist eigentlich zu ernst, um es einfach so in einem Erlebnisbericht unter anderen Ereignissen zu erwähnen. Und ich merke, wie schwer es mir fällt, den richtigen Ton zu treffen. Ich habe lange hin und her überlegt, ob ich davon schreiben soll, und wie das geschehen könnte, ohne dass es zynisch oder sensationslüstern erscheint. Ich weiß nicht, ob mir das gelingt, aber ich will es erzählen denn es gehört genauso zu dieser Woche wie alles andere, was stattgefunden hat.
Stefan, Gregori und ich wurden Zeugen eines entsetzlichen Unfalls. Ein Bergsteiger einer anderen Seilschaft stürzte direkt neben uns über die Nordwand des Piz Buin 200 Meter tief in den Tod.
Es ging alles erschreckend schnell. An einer im Grunde vollkommen unproblematischen Stelle hatte er den Halt verloren. Das Gelände war, bevor es in die Steilwand überging relativ flach, und eigentlich, so dachte ich, hätte zumindest im oberen Teil der schätzungsweise 50 Meter langen Rinne, in die er stürzte, genügend Möglichkeit bestanden, sich noch irgendwo festzuhalten. Das tat er nicht. Er wurde immer schneller, und dann war er irgendwann einfach weg, hinter der Kante, die in die Nordwand zum Ochsentaler Gletscher übergeht – lautlos.
Wie gesagt: es war ein Bilderbuchtag zum Bergsteigen, das Wetter ideal, keine Spur eines Unwetters, auf das man hätte achten müssen, war zu sehen. Auch die Gefahren, die bestehen, wenn man allein unterwegs ist, gab es nicht – es waren mindestens 20 Bergsteiger in der Nähe, die einem hätten beistehen können. Und trotzdem ist dieser Unfall passiert.
Sollte man daraus den Schluss ziehen, nicht mehr ins Hochgebirge zu gehen, um sich dieser Gefahr nicht aus zu setzen? Diese Frage muss jeder für sich selbst beantworten. Ich für meinen Teil glaube, dass man sich öfter als man denkt in Lebensgefahr befindet. Die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls war beispielsweise für Stefan und mich beim Aufstieg im Gewitter zur Wiesbadener Hütte sicher viel höher als hier unterhalb des Gipfels des Piz Buin. Es kann immer etwas passieren, jeder Zeit.
Viel entscheidender, denke ich, ist die Frage, was ein solches Erlebnis mit einem selbst macht, auch unmittelbar. Wir mussten ja noch in die Buinlücke abklettern. In unserem Fall hatte ich nicht den Eindruck, dass jemand von uns dreien, was Umsicht und Trittsicherheit anbelangt, beeinträchtigt war.
Wir brauchten noch etwa 20 Minuten für den Abstieg in die Buinlücke. Erleichtert empfingen uns dort Erwin und Martin.
Nach dem Abstieg über den Gletscher kamen wir um ca. 17:30 Uhr an der Wiesbadener Hütte an.
Am Montag teilte sich die Gruppe. Erwin, Gregori und Martin blieben noch – offiziell endete die Tourenwoche ja am Dienstag. Ich selbst aber machte mich 9:00 Uhr an den Abstieg. Ich hatte mit meinem Auto bei der Hinfahrt große Probleme mit dem Kühler gehabt und wollte deshalb so wenig Zeit wie möglich verlieren und noch in Österreich eine Werkstatt aufsuchen.
Für mich war das das Ende einer äußerst vielfältigen Tourenwoche. Ich habe viel erlebt und viel gelernt. Die Bilder des tragischen Unfalls am Biz Buin werde ich wohl nicht so schnell wieder los werden. Aber auch die schönen und faszinierenden Momente werde ich nicht vergessen.