Vor unserem Aufstieg besuchen wir noch ein Cafe in der Nähe unseres Parkplatzes am Karerpass, um uns zu stärken. Wir machen es uns bequem in den Gartensesseln des Lokales und freuen uns auf kommende Ereignisse. Was aber nicht kommt, ist eine Bedienung, so dass wir uns ein neues Lokal suchen. Wir haben eine rasante Fahrt mit einem Nacht-Express hinter uns: Rene und Albert haben uns Nonstop von Mützenich nach Südtirol gefahren.
Nach einem Kaffee brechen wir auf und steigen mit unseren Rucksäcken bergan. Wir durchqueren steilen Lärchenwald, erreichen schnell die Almregion und je höher wir kommen, desto karger wird die Vegetation. Bald bewegen wir uns in alpinem Felsgelände. Nach knapp 3 Stunden haben wir die Hütte auf 2300 m erreicht und laben uns an Kaffee und Kuchen. Ich stelle fest, dass die italienischen Hütten in den letzten Jahren spürbar an Komfort zugelegt haben. Allerdings gibt es immer noch kein elektrisches Laufband im Keller, und so entschließt sich Albert (er braucht sein tägliches Lauftraining), abends noch eine Runde durch die Berge zu laufen.
Beim Abendessen erfahren wir von der Wirtin, dass die Wettervorhersage für den folgenden Tag Dauerregen verspricht. Und wir haben geplant, den Santnerpass-Klettersteig zu gehen. Das kann ja heiter werden.
Nach dem Essen entsteht eine angeregte Unterhaltung zwischen Albert und einem verwegen aussehendem älterem Männlein an unserem Tisch. Es prallen Welten aufeinander, der Bergschrat vertritt die Ansicht, dass alles im menschlichen Leben vorherbestimmt ist und widerspricht Albert vehement, dass man sein eigenes Schicksal beeinflussen kann. Sein Bart zittert vor Erregung. Als Krönung der anstrengenden Unterhaltung stellt sich schließlich heraus, dass der Schrat mit seiner Räuber Hotzenplotz-Frisur von Beruf Frisör ist. Donnerwetter.
Am nächsten Morgen erwartet uns strahlender Sonnenschein und wir machen uns fertig für den Klettersteig. Nach einem kurzen Einstieg erreichen wir die mit Stahlseil gesicherten Passagen, wo wir uns mit unseren Karabinern einklinken. Volker als der Erfahrenste von uns führt die Route an. Eine zerklüftete Westwand mit Rissen, Kaminen, Traversen und einem Mauseloch zum durchkriechen erwartet uns. Noch etwas ungelenkig klettere ich los, erst nach einer Weile fühle ich mich wieder sicher im Fels.
Nach dem Ausstieg aus der Wand erreichen wir das Vajolettal: Links thronen die drei markanten Türme, die wie gigantische Steinfinger in den blauen Himmel ragen und rechts das Massiv der Rosengartenspitze. Alles ist aus weißem, bizarr geformten Kalkfels, der in der Sonne hell leuchtet. Wenn man genau hinsieht, erkennt man sogar die Löcher im Fels, die durch die unzähligen Fotoschüsse der Touristen entstanden sind. Nicht umsonst ist diese phantastische, steinerne Szenerie ins Unesco-Welt-Kulturerbe aufgenommen worden.
Wir genießen eine kurze Rast an der Preuss-Hütte mit dem obligatorischen Kaffee und einem Blick zurück in eine phantastische Felsszenerie. Durch Volkers Teleobjektiv entdecken wir Kletterer im steilen Fels.
Nach zügiger Wanderung erreichen wir die Grasleitenpasshütte auf der gleichnamigen Passhöhe und nach steilem Abstieg kommen wir zur Grasleitenhütte. Diese ist eine etwas ältere, aber sehr gemütliche Herberge. Nach dem üblichen Kaffee erstehe ich noch vom Hüttenwirt neue Batterien für meine Kamera. Noch ahne ich nicht, was damit am nächsten Tag passieren wird.
Weiter geht’s bergab durchs Bärenloch. Hier gibt es wieder dichten Nadelwald und üppiges Grün, wir sind jetzt fast 800 Meter tiefer als noch gerade auf der Passhöhe. Beim folgendem Aufstieg entdecken wir zahlreiche Edelweiß-Blüten, die versteckt zwischen den Felsen wachsen.
Endlich ist die Trierser-Alp-Hütte in 2440 Meter Höhe zu sehen. Wir sind an diesem Tag eine Bergstrecke gelaufen, die normalerweise Touristen an zwei vollen Wandertagen absolvieren: Einen Klettersteig, zwei Pässe, acht Hütten und etwa 2500 Höhenmeter haben wir an diesem Tag erwandert. Wir sind halt Marathonis. In der Hütte angekommen freuen wir uns auf einen gemütlichen Abend, aber Albert spielt wieder mit dem Gedanken zu laufen. Er findet einen anderen Gast, der Interesse signalisiert mitzumachen. Als aber Albert beginnt, nervös mit den Hufen zu scharren, winkt der andere ab. So startet Albert alleine in die beginnende Dämmerung, während wir es uns beim Abendessen gemütlich machen.
Am nächsten Morgen, es bläst ein bitterkalter Wind, geht es wieder auf eine Passhöhe, den Molignonpass, und dann steil abwärts. Es ist eine Schotterrinne, steil wie ein Hausdach, und wir müssen aufpassen, möglichst keine Steine loszutreten. Unten angekommen geht es genauso steil wieder aufwärts zum Grasleitenpass, den wir schon gestern in anderer Richtung überquerten. Wir haben also eine große Runde gedreht.
Oben auf der Passhöhe angekommen, weht uns ein eiskalter Wind ins Gesicht, genauso wie am Tag zuvor, als wir hier von der anderen Seite aus hochkamen. Wir kehren wieder mal kurz ein in der Hütte und bestellen das übliche braune Heissgetränk. Roland hat auf dieser Tour bereits abgenommen, so dass er Rene bittet, zusätzliche Löcher in den Ledergürtel seiner Hose zu stechen, damit er diese nicht verliert. Als Profi erledigt Rene diese Aufgabe schnell und perfekt.
Ein Blick aus dem Hüttenfenster zeigt uns die Westwand des Kesselkogels, wo wir gleich im Klettersteig aufsteigen werden. Eine etwa 500 Meter hohe, fast senkrechte Felswand, im unteren Teil durchzogen von einem diagonalen Riss. Beim genauen Hinsehen entdecken wir ameisengroße Bergsteiger, die in diesem Riss hochkrabbeln. Aha, das ist unser Weg auf den Gipfel. Ich kann nicht vermeiden, dass sich in meinem Magen ein komisches Gefühl regt. Doch tröste ich mich mit dem Gedanken, dass die schwierigen Stellen mit fixen Stahlseilen gesichert sind.
Jetzt geht es hoch in die Wand, der Profi-Höhenretter Volker voraus. Die ersten Meter sind noch ohne Sicherung, obwohl schon unangenehme Abbrüche zu überwinden sind. Aber endlich ist das Seil erreicht und ich klinke meinen Karabiner ein. Nun geht es immer aufwärts, linker Hand steiler oder überhängender Fels, rechts mehr oder weniger senkrechte Abbrüche. Obwohl der Pfad steil und ausgesetzt ist, lässt es sich in diesem Fels sehr gut klettern und nach einer Weile fühle ich mich sicher.
Weit unter mir sehe ich die Grasleitenpasshütte, wo wir vorhin noch Kaffee tranken. Ich habe den Eindruck, dass ich mit einem kräftigen Steinwurf das spielzeuggroße Dach der Hütte treffen könnte. Natürlich ist Steine werfen aus Sicherheitsgründen im Gebirge absolut tabu.
Am Ende des diagonalen Risses biegen wir scharf links ab und klettern im hellen Sonnenschein dem Gipfelgrat entgegen. Eine vollständig vereiste Passage müssen wir überqueren. Da kein Seil in Reichweite ist, kriechen wir auf allen Vieren über das abschüssige Eis, aber dann haben wir es geschafft und wir erreichen den Gipfelgrat. Das Kreuz ist schon zu sehen, es muss nur noch ein etwa 200 Meter langer gezackter Grat überwunden werden. Rechts und links gähnen bodenlose Abgründe. Geübte Bergsteiger steigen lässig über den Grat hinweg, Anfänger und ängstliche Seelen hangeln sich mit weichen Knien von Fels zu Fels, und krallen sich an den Zacken immer wieder fest.
Am Gipfelkreuz gibt’s kein Gipfelbussi, dafür einen männlichen, marathongestählten Händedruck und ein kerniges: „Berg Heil!“ Wir stehen auf gut 3000 Metern Höhe und alle Berge ringsum sind kleiner. Nur in der Ferne die Marmolata, das Wahrzeichen der Dolomiten, ist höher. Sie sieht aus wie ein Napfkuchen, der in der Mitte abgeschnitten wurde. Die Schnittfläche ist die berüchtigte 1000 Meter-Südwand, einer der schwierigsten Klettertouren der Alpen. Die linke Hälfte des Napfkuchens ist rund und mit Zuckerguß verziert, na ja, es ist eigentlich ein Gletscher.
Beim Abstieg von der Kesselkogel-Ostwand auf halber Höhe passiert es dann: Ich klettere eine Steilstufe ab, drehe mich dabei um und spüre, wie sich an meinem Gürtel die mit einem Klettverschluss befestigte Kamera löst. Sie fällt runter und rutscht über eine steile Rinne gemächlich, aber unaufhaltsam talwärts. Albert steht dabei und gemeinsam schauen wir zu, wie der Apparat immer kleiner wird und schließlich in der Tiefe verschwindet. „Die Kamera wird am Fuße der Schneerinne landen, die wir heute Morgen nach dem Molignon-Pass gequert haben,“ kommentiert Albert. Wie tröstlich. Aber noch ahne ich nicht, dass mir diese Geschichte an unserem letzten Hüttenabend ungeahnte Pluspunkte bescheren wird.
Am Fuße des Kesselkogels erreichen wir das Antermojatal. Rechts und links ragen senkrechte Felswände auf, überall Steine, Geröll und vor uns glitzert der Antermoja-Bergsee in der Sonne. Das ist eine Landschaft wie in einem Winnetou-Film.
An der Antermoja-Hütte erwartet uns ein Kran und die Herberge ist mit Bauzaun umgeben. Hier wird gerade Alles umgebaut. Trotz der speziellen Umstände werden wir als Gäste freundlich aufgenommen, aber Komfort-Einschränkungen bleiben nicht aus. Gaststube und Küche sind ein Raum, das Nachtlager ist über eine Außentreppe zu erreichen und als sanitäre Einrichtung gibt es nur ein einziges Dixiklo mit Waschbecken für alle Gäste. Trotzdem werden wir auch hier gastlich bewirtet. Es gibt warmes Abendessen und für Albert wieder ein Früchte-Jogurth, nachdem er seine Abendrunde gejoggt ist. Später am Abend erzählt uns der betagte Hüttenwirt aus seinem bewegten Bergsteigerleben. Er hat schon Expeditionen zum Kilimandscharo, nach Südamerika, Cordillera Blanca und ins Himalaya unternommen. So war er bereits auf dem Makalu und dem K2, beides extreme Achttausender, die nicht ganz so hoch, aber klettertechnisch deutlich schwieriger als der Mt Everest sind.
Am nächsten Morgen ist es wieder bitterkalt, obwohl die Sonne scheint, und es bläst ein scharfer Wind. Wir brechen auf und steigen zum nahen Pass hoch. Auf der anderen Seite erreichen wir ein Felsental, in dem wir eine Herde wilder Mufflons entdecken, die uns in gebührender Entfernung talabwärts begleiten. Schließlich erreichen wir den Lausa-Pass, den wir abwärts steigen. Kirchturmsteil geht es im Schotter hinab, an einer senkrechten Felswand entlang. Nach kurzer Zeit haben wir alpine Felsregion verlassen und tauchen in üppiges Grün ein. Wir sind jetzt am Fuße der hohen Kalkberge und die Gegend wird lieblich wie eine Heidi-Bilderbuch-Landschaft. Schließlich kommen wir zur Gardeccia-Hütte, wo wir uns auf der Sonnenterrasse ein warmes Mittagessen genehmigen. Der Rundblick auf idyllische Almen und gezackte Berge ist phantastisch.
Und weiter geht es mit vollem Magen und schwerem Rucksack bergauf. Nochmals wird ein kleinerer Pass überschritten und wir genießen das Panorama der anderen Talseite.
Wir kommen an einer Felslücke vorbei, wo in etwa zwei Meter Höhe ein Containergroßer Steinblock eingekeilt ist. Volker nutzt die Gelegenheit und stellt sich mit ausgetreckten Armen unter den Fels. Rene fotografiert und so entsteht das Bild mit dem Titel: „Starke Männer bei der Aachener Feuerwehr“.
Als wir in der Rotwand-Hütte ankommen, ist diese schon voll belegt. Wir nehmen an unserem reservierten Tisch Platz und sehen drei zusätzliche Platzkärtchen. Wir bestellen unser Abendessen und erklären der Wirtin, dass unser 5. Mann wieder seine Abendrunde drehen muss und statt eines Abendessens lieber Nüsse und Eiweißriegel knabbert. „Ja, ja, den kenn' ich schon. Der ist schon vor drei Tagen hier abends vorbeigejoggt,“ lautet die Antwort der Wirtin.
Es dauert nicht lange, dann kommen drei junge Leute an unseren Tisch, eine Frau und zwei männliche Begleiter. Die Frau sieht aus wie die Schauspielerin Cameron Diaz und hat das Temperament einer Tina Turner. Schnell stellt es sich heraus, dass die Unterhaltung auf Englisch geführt werden muss, da die jungen Leute aus Hawaii bzw. New York kommen. Ihre Namen sind Elisabeth, Howard und Jason. Wir erklären, dass unser nicht vorhandener 5. Mann gerade noch seine Abendrunde in den umliegenden Bergen dreht, was aber nach dem Hinweis auf den Psychotherapeuten-Tätigkeit akzeptiert wird. Es wird ein sehr unterhaltsamer deutsch-amerikanischer Abend. Elisabeth, so stellt sich heraus, ist Masseurin, worauf Volker und anschließend auch ich in der Dusche verschwinden, um anschließend frisch und sauber am Tisch zu erscheinen. Das löst jeweils große Freude bei Elisabeth aus. Als ich von meiner verlorenen Kamera erzähle, ist sie wild entschlossen, diese in den nächsten Tagen zu finden. So tauschen wir auch E-Mail-Adressen aus und Elisabeth ist so begeistert, dass sie uns allesamt nach Hawaii einlädt. Als wir gerade schon eine Besteigung des Vulkans auf der Hawaii-Insel planen, kommt Albert verschwitzt von seinem Lauf zurück. Unsere Unterhaltung wird seriöser.
Diese Nacht verbringen wir in einem traditionellen Massenlager mit allen zugehörigen Geräuschen und Gerüchen.
Als wir am nächsten Morgen aufstehen, herrscht eine zauberhafte Stimmung. Das Tal unterhalb der Hütte ist mit einem dicken, weißen Nebelsee gefüllt. Schroffe Felsen ragen aus dem weißen See und darüber strahlt die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Leider müssen wir heute die Dolomiten verlassen und absteigen. Bevor wir in die Nebelsuppe eintauchen, kommen wir an dem Christomanno-Denkmal vorbei. Ein wunderbares Fotomotiv, der übergroße Metallvogel des Denkmals auf einem Felszacken, darunter wabern die weißen Nebel. Schnell noch ein Gruppenfoto mit Selbstauslöser geschossen, dann steigen wir hinab in die graue Nebelbrühe.
Roland sei Dank für die Planung und Durchführung dieser wirklich schönen und abwechslungsreichen Tour. Ich werde diese noch lange in bester Erinnerung behalten.