Das Gefühl auf dem Gipfel eines Berges zu stehen, nach einem mehr oder weniger mühevollen Anstieg, haben wir schon immer als etwas Schönes und Beglückendes empfunden. Wohlgemerkt ich spreche von Gipfeln, zu denen man weitgehend ohne technische Hilfsmittel, wie z.B. Seilbahn etc., aus eigener Kraft gelangt. Klettert man etwa an der Ahr die Teufelsley hinauf und hat oben an einem klaren Tag einen grandiosen Ausblick über das weite Land, geht einem das Herz auf. Es muß also nicht unbedingt ein sehr hoher Berg sein.
Trotzdem, für diesen Sommer hatten Matthias und ich uns etwas Besonderes vorgenommen. Wir wollten einen 4000er besteigen. Nach vielen Berichten aus Büchern und Zeitschriften, vor allem aber auch von Karl Zöll, wollten wir es selbst einmal wissen. Karl empfahl Matthias das Buch "4000er, Die Normalwege", in dem alle Normalwege auf die 4000er der Alpen beschrieben sind. Von da an ließ uns der Gedanke nicht mehr los. Wir suchten fürs Erste einen "leichten" 4000er aus. Der Weissmies, 4023m, im nordöstlichen Teil der Walliser Alpen gelegen, beschrieben als wenig schwierig, sollte es sein. Bald schon hatte Matthias die Idee, diesen Berg nicht nur zu besteigen, sondern zu überschreiten. Er plante von der Almageller Hütte aufzusteigen und über die Nordwestflanke und den Gletscher zur Hohsaashütte bzw. Weissmieshütte abzusteigen. Nachdem er mir lange genug davon vorgeschwärmt hatte, wir Buch und Karte intensiv studiert hatten, willigte ich schließlich ein.
Wir verbrachten ein paar Tage in Saas Almagell, machten eine Eingehtour nach Mattmark und zum Schwarzenberggletscher und stiegen schließlich am 10.07.98 zur Almageller Hütte auf. Der Hüttenanstieg war schon wunderschön. Nachdem wir das erste Joch überwunden hatten, wanderten wir durch ein herrliches Hochtal, bewunderten Steinböcke und erfreuten uns an der tollen Aussicht, z.B. auf den Dom, den Allalingletscher etc. Nach einem weiteren Anstieg erreichten wir schließlich am frühen Nachmittag die Almageller Hütte auf 2894 m, unser erstes Etappenziel. Nach einer kurzen Rast half Matthias dem Hüttenwirt und dessen Kindern eine Staumauer für einen kleinen See zu bauen, während ich vor der Hütte in der Sonne lag und die Aussicht genoß.
Am nächsten Morgen standen wir um 04.00 Uhr auf und nach ausgiebigem Frühstück starteten wir um 04.35 Uhr. Unsere Stirnlampen brauchten wir nicht, wir fanden unseren Weg mit "Mondlichtbenutzung". Karl Zöll hat diesen Begriff einmal in einer seiner Tourenbeschreibungen gebraucht. Jetzt wissen wir was gemeint war. Nach ca. 1 1 /2 Stunden hatten wir den Zwischbergenpaß erreicht, gerade als die Sonne hinter den Bergen hervorkam und die gesamte Landschaft in ein weiches, warmes, rot-oranges Licht tauchte. Allein wegen dieses Sonnenaufganges hätte sich der Weg schon gelohnt.
Wir verweilten kurz und stiegen dann weiter unserem Ziel entgegen. Zwei Möglichkeiten boten sich uns. Wir konnten entweder über das Schneefeld hochsteigen oder direkt über den Grat. Die Gruppe vor uns entschied sich für das Schneefeld und diese Möglichkeit erschien auch uns zunächst als die geeignetere. Also zogen wir unsere Steigeisen an und stapften los. Dieser Weg erwies sich jedoch als sehr mühsam, wir querten deshalb hinüber zum Grat, zogen unsere Steigeisen wieder aus und hatten es nun mit Blockwerk zu tun. Eine herrliche Kraxelei begann, die uns weit mehr lag und womit wir nun mehrere Stunden beschäftigt waren. Zwischendurch hielten wir mehrmals inne, um zu rasten und die Augenblicke freier Sicht zu genießen, denn mittlerweile waren wir sehr oft von dichtem Nebel umgeben. Auf dem Grat rechts von uns kletterte ein Steinbock majestätisch in die Höhe. Es schien uns als schaue er zu uns herüber. Oben angekommen legte er sich nieder und es kam mir so vor, als beobachte er uns mit dem Gedanken: " Mal schauen, was die zwei da wohl machen".
Bald schon hatten wir das Ende des felsigen Grates erreicht und mußten wieder auf Schnee wechseln. Mittlerweile befanden wir uns wieder in dichtem Nebel, doch konnte man die Spur deutlich erkennen. Nachdem wir ein Stück begangen waren, erreichten wir eine felsige Stelle. Ich war fest davon überzeugt, am Gipfel zu sein und drängte Matthias dazu, die Gipfelfotos zu machen. In diesem Moment war es, als zöge jemand mit unsichtbarer Hand einen Vorhang auf, als würde jemand ein Fenster für uns öffnen.
Dieser Augenblick war so ergreifend für mich, daß mir die Tränen in die Augen schossen. Ich war überwältigt von dieser ganzen Schönheit. Doch fanden wir schnell wieder zur Realität zurück, denn wir sahen nicht nur die tollen Berge ringsum, sondern auch den Gipfelgrat des Weissmies und seine riesige Schneewächte. Wir waren noch nicht am Ziel, obwohl ich davon überzeugt war, daß das Glücksgefühl nicht mehr größer werden konnte. Also stiegen wir noch die letzten Meter des Gipfelgrates hinauf und machten erneut Gipfelfotos, ehe wir auf die andere Seite der Wächte wechselten und den riesigen Gletscher, unseren Rückweg vor uns hatten. In kilometerlangen, uns schier endlos erscheinenden Windungen zog sich die Spur an gigantischen Spalten vorbei über den Gletscher. Im oberen Teil gestaltete sich der Abstieg wegen Blankeis für mich sehr schwierig, doch nachdem Matthias einigen Stufen geschlagen hatte, kam ich besser voran. Bald erreichten wir Passagen mit sulzigem Schnee, denn mittlerweile war es schon früher Nachmittag und die Sonne hatte die Spur sehr aufgeweicht. Endlich schien das Ende unseres Weges in Sicht. Wir konnten schon den Weg sehen, der zur Hohsaashütte führte, doch vorher mußten wir im unteren Teil noch eine Passage mit Eis und Geröll und Spalten überwinden. Zu allem Überfluß gingen auch noch mehrere kleine Geröllawinen nieder. Endlich gelangten wir auf den Weg und waren froh, unsere Steigeisen ausziehen zu können. Eine kleine Enttäuschung stand uns jedoch noch bevor. Auf der Hohsaashütte war kein Platz mehr für uns und nach einer Stärkung mit Bier und Rösti entschlossen wir uns, noch zur unterhalb gelegenen Weissmieshütte abzusteigen, obwohl ich eigentlich geschworen hatte, an diesem Tag keinen einzigen Schritt mehr zu laufen. Die Wirtin der Weissmieshütte hatte schließlich, trotz Überfüllung, Erbarmen mit uns und bereitete uns auf dem Dachboden ein riesiges Notlager. Erschöpft, aber glücklich und zufrieden schliefen wir ein und am nächsten Morgen gönnten wir uns eine Fahrt mit der Seilbahn hinunter bis nach Saas Grund.
Wir verbrachten danach noch ein paar sonnige Tage am Gardasee und sprachen immer wieder über die Besteigung unseres ersten Viertausenders. So richtig konnten wir es noch immer nicht fassen und auch jetzt, wo wir schon ein paar Wochen zu Hause sind und mittlerweile die Fotos angeschaut haben von unserer Tour, staunen wir immer noch und freuen uns daß wir es geschafft haben. Für uns war es ein ganz besonderes Erlebnis, von dem wir sicher noch lange zehren können.