Datum: 30. 06 1989
Autor: Rudi Berners und Karl Zöll
Es ist kalt. Eiskalt. Gerade erst kurz nach vier Uhr morgens. So um die 3500m hoch. Es ist Zeit, um eine kleine Pause zum Verschnaufen zu machen. Also gräbt der Pickel ein kleines Loch in die Mauer aus Eis, gerade so groß, daß die Steigeisen eines Fußes darin Platz haben. Drei Schritte, wenn man bei der Fortbewegung auf allen Vieren überhaupt von Schritten sprechen kann, und die Ruheposition ist erreicht.
Heute ist Mittwoch. Es sind also gerade drei Tage vergangen seit dem wir, das sind Hanns Hein Vantler, Karl Zöll und ich, damals noch zusammen mit Eckhard Klinkhammer, eine beeindruckende Tour unternahmen. Fletschhorn und Lagginhorn Überschreitung. Eine klassische Walliser Tour. Eine Tour, wie man sie nicht vergißt. Wir starteten von den Weismieshütten aus. Wecken um drei Uhr. Frühstück im Gastraum, der von äußerst geschäftigen Bergsteigern fast überquoll, ein Blick auf den Mond, der gerade zwischen Dom und Täschhorn versank, und dann ging es los.
Zuerst im Schein der Stirnlampen über den zerklüfteten Fletschhorngletscher, dann durch ein Couloir bis zum Frühstücksplatz. Anschließend die Westflanke, die von riesigen Spalten durchzogen war, hin zum einem Nordwestgrat, an dem wir nach der Kälte der Nacht dann endlich vom Sonnenlicht verwöhnt wurden.
Der Nordwestgrat des Fletschhorn
Am Fletschhorngipfel
Rudi Berners, Hanns Hein Vantler, Eckhard Klinkhammer, Karl Zöll
Der Vergleich dieses Grates mit dem Biancograt drängt sich auf. Am Gipfel des Fletschhorns war es wieder kalt. Wir rasteten östlich unterhalb des höchsten Punktes in einer windgeschützten Ecke.
Die Aussicht war überwältigend. Ein feiner Dunstschleier lag über der Lombardei. Die Gipfel der Ortlergruppe zeichneten sich scharf im Gegenlicht ab. Schöner hätte man die Silhouetten der Tessiner und Bündner Alpen nicht malen können. Über allen Gipfel die Bernina. Zum Greifen nahe erschiene die Berge der Mischabel. Dahinter die Walliser Gipfel. Glasklar ist der Horizont im Osten. Im Norden die Berner Alpen, der große Aletschgletscher...
Wir waren alle in ausgezeichneter Verfassung. Jeder von uns hatte auf seine Weise ein gewisses Maß an Höhenanpassung erlangt. Eckhard war an der Zugspitze und in den Tauern, Hanns Hein hatte kurz vor unserer gemeinsamen Tour die Nordwestwand der Aiguille de Bionassay durchklettert, Karl war zweieinhalb Monate vorher auf dem Gipfel seines zweiten Achttausenders, dem Cho Oyu, und ich selber war schon seit zwei Wochen in den Alpen unterwegs und hatte ein paar Tage vorher den Alphubel bestiegen. Wegen der Leichtigkeit, mit der wir diesen Berg bestiegen, lag es nahe, auch größere Touren in Angriff zu nehmen. Nach dem Abstieg zum Fletschhornjoch ging es über steilen Firn zum Einstieg des Lagginhorn-Nordnordostgrates. Der Grat besteht überwiegend aus Fels, der Schwierigkeiten bis zum III. Grad aufweist. Karl hatte leichte Probleme mit seinen Fingerkuppen, Hanns Hein mit seinem Zutrauen zum eigenen Kletterkönnen. Dennoch kletterten wir den Grat seilfrei. Auf dem Lagginhorn stellte sich dann Gedränge ein. Der Gipfel ist recht klein, zu klein für die ca. 15 Personen, die sich hier oben befanden. Nach kurzer Rast folgte dann der anstrengende Abstieg über den Schuttgrat, über den der Normalanstieg führt. Knapp erreichten wir noch die Kabinenbahn am Kreuzboden, die uns nach Saas-Grund trug. Am Abend hatten wir uns viel zu erzählen, über unser erstes gemeinsames Bergerlebnis. Eine klassische kombinierte Walliser Hochtour. Wir hatten uns kennen und schätzen gelernt.
Genug verschnauft. Die Eiskletterei kann weitergehen. Die Nordwestwand des Grand Combin de Valsorey ist noch hoch. Pickel rechts. Pickel links, Fuß rechts. Fuß links. Pickel rechts.... - jetzt habe ich einen guten Rhythmus gefunden. Wie schnell man doch Höhe gewinnt, wenn man den direkten Weg wählt. Von Wandfuß gerade hinauf zum Gipfel. Aber es verlangt mehr Kraft als die üblichen Gletscheranstiege auf die Gipfel der Viertausender. Für die größere Anstrengung wird man belohnt. Mit einem intensiveren Erlebnis und dem Fehlen jeglichen Massenandranges.
Ein paar harte Hiebe mit der kreisrunden Pickelschaufel des neuen Eisgerätes, und schon ist eine kleine Grube im Eis fertig, in die ein Fuß hineinpaßt. So kann man in Eiswänden an nahezu beliebiger Stelle einen Ruhepunkt schaffen. Wo sind denn die anderen? Am Einstieg waren wir noch zusammen. Hanns Hein, Karl und ich. Um viertel nach eins sind wir von der Panossiere-Hütte losgegangen. In der sternklaren Nacht sind wir den langen Weg über den Eisstrom des Corbassieregletschers gekommen und haben uns am Bergschrund die Gurte angelegt. So beeindruckend die Szenerie der nächtlichen Bergsilhouetten der Maisons Blanches, der weißen Häuser, im Westen auch war, so kalt wer mir. Und da ich als erster mit meinem Gurtzeug klargekommen war, hatte ich mich verabschiedet und bin losgestiegen. Schließlich ist das meine erste große Eiswand, und die sehr eiserfahrenen Kameraden würden mich in wenigen Minuten wieder eingeholt haben.
Karl erlebt diese Nacht so:
Mondlicht über den Gletschern! Stille der Sternennacht!
Wir sind auf dem Weg zur Grand Combin NW-Wand. Stunden zwischen Traum und Tag. Diese Nacht ist wie eine Momentaufnahme und grenzt doch an die Ewigkeit. Jeglicher Zeitbegriff ist mir abhanden gekommen. Irgendwann sind wir am Einstieg. Waren es Stunden – Waren es Minuten? Zwischen dem Verlassen der Panossiere-Hütte und unserer Wand liegt eine Spanne der Zeitlosigkeit, geradezu eine Abstraktion des abstrakten Zeitbegriffs selbst. Wir haben erlebt, wie unsere Erde sich vor der Schöpfung befand: in einer zeitlosen Zeit. Wir hörten die Sphärenmusik der alten Griechen. Wir erleben die Wachablösung der Gestirne, als würde dieses Ereignis zum ersten Mal am Schöpfungstage stattfinden. Das unwirkliche Mondlicht weicht dem beginnenden Tag mit seinen klaren Konturen, der keinen Raum mehr läßt für unsere Traumreise, der die Tat fordert. Wir tauchen aus dem zeitlosen Traum in die Realität unserer Welt. Als der blaßgelbe Mond über dem rosenfarbigen von der Sonne feuergetauchten Mont Blanc versinkt, in ein mattes, unscheinbares Weiß zerrinnt, da wissen wir: Wir stehen am Fuß der Grand Combin NW-Wand. Der Traum hat ein Ende, die Tat wartet. Aber diese Nacht werde ich nie vergessen. Es ist kaum ein Wort gefallen. Es wäre mir auch zu profan erschienen, den Zauber dieser Nacht mit menschlichen Lauten zu stören. In dieser Nacht fühlte ich mich eins mit dem All, mit den Wurzeln der Welt. Goethes Worte kommen mir in den Sinn: "Die Berge sind stumme Meister und machen schweigsame Schüler!" Zumindest auf diese Nacht trifft es zu. Auch die – ich möchte sagen – gemeinsame Wellenlänge zwischen uns Dreien, trägt zu diesem Erlebnis bei.
Kurze Glanzlichter vorher: Unendliche, einmalige Gipfelflur gesehen vom Fletschhorn in Richtung Ostalpen. Steigen steil ins Licht am Gipfelgrat des Fletschhorns. Blumenpracht am Wege zur Panossiere-Hütte. Interessante, uralte Reste vulkanischer Tätigkeit am Col des Otanes. Schöne harmonische Tage auf der Hütte, in einem abgeschiedenen, großartigen Alpenwinkel mit nahezu himalayischen Dimensionen. Aber alles verblaßt vor dieser Nacht.
Da stehe ich nun schon hoch in der Wand und schaue zurück. Lange Zeit ist nichts zu sehen. Ein Wink mit der Stirnlampe, aber nichts rührt sich. Dann, endlich, sind da doch zwei dunkle Gestalten, weit unten, so an die 200m tiefer. Die Beiden haben einen anderen Einstieg gewählt, und offenbar war der etwas schwieriger oder länger, wie auch immer. Wenn Karl, der am Einstieg das Seil von mir übernommen hatte, mich rasch einholen soll, um uns gegebenenfalls zu sichern, würde ich also nur sehr langsam weitersteigen dürfen. 100m höher sieht es schwierig aus. Die Wand wirkt sehr viel dunkler und steiler. Vielleicht werde ich dort eine Sicherung benötigen.
Weiter geht’s. Pickel rechts. Pickel links ..... . Gut 50° ist hier die Wand steil. Aber die Verhältnisse sind ausgezeichnet. Die dicke Firnschicht hat guten Verbund mit dem Eis. Ich fühle mich sehr sicher, trotz der Rutschbahn von 300m unter mir. Noch ist der Ausstieg nicht zu sehen. Eine Felsrippe versperrt den Blick. Unterhalb der Felsrippe wird es steiler. Auf einem Absatz am Fels mache ich Pause. Gemäß der Karte muß ich jetzt 3800m überschritten haben.
Vorgestern waren wir bei Nieselregen in Mauvoisin angekommen. Nach einigem hin und her haben wir uns dann entschlossen, zur Panossierehütte aufzusteigen. Der Weg führte über den Col des Otanes, einem Paß, über den nur ein kleiner Saumpfad führt. Kurz hinter der Paßhöhe gab es eine Überraschung. Ein Fleck von etwa 50m Durchmesser aus gelbem, porösem Ergußgestein. Ein Vulkanschlot.
Hier?!
Eingehüllt in dichten Nebel stiegen wir hinab zur alten Panossierehütte. Eine Lawine hat die Hütte im Frühjahr 1988 bis auf die Grundmauern weggefegt. Von der Ruine etwa 5 Minuten entfernt stand unser Heim für die nächsten Tage. Jeanne und Maxime, die Hüttenleute hielten uns gut bei Laune. Ganz erstaunlich, wie Jeanne mit den bescheidenen Mitteln, die ihr in der Nothütte zur Verfügung standen, so wohlschmeckende Speisen bereitete Diese Nothütte, die mit Hilfe des schweizerischen Militärs aus Mitteln des SAC und von Spendengeldern errichtet wurde, ist durch das Wirken der Hüttenleute richtig heimelig geworden. Gestern morgen waren wir dann kurz davor, wegen Schlechtwetters abzusteigen. Plötzlich riß dann aber der Nebel auf und wir stürzten aus der Hütte heraus. Da stand er nun, der Grand Combin. Alle anderen Berge waren noch durch Nebel verhüllt. Es fehlte jeder Größenvergleich. Wir waren tief beeindruckt.
Worte:
Karl: " Der könnte im Himalaya stehen. Es gibt Achttausender, die sehen nicht so großartig aus wie der Combin." - Hans Hein: " Wenn das Wetter nicht besser wird, hat das keinen Zweck. Dafür ist die Tour zu lang." - Eckhard: " Ich glaube, die Tour ist zu lang für meinen Knöchel, auch über den Normalweg."
Und ich fragte Karl: " Wie viele Biwaks brauchen wir denn bis oben? Drei?"
Ja, wir waren tief beeindruckt. Wir alle, ohne Ausnahme. Und trotzdem wollten wir es wagen, den Berg anzugehen.
Allmählich wird es hell, hier auf meinem Felssims. Es irritiert mich, daß es hier von Westen her hell wird. Der Montblanc im Westen, hoch über den Maisons Blanches, wird schon von der Sonne angestrahlt, während ich im Osten nur gegen eine dunkle Felsmauer sehen kann. Ein Blick nach unten bringt mich nur kurz zum Staunen: Karl und Hans Hein sind immer noch 200m tiefer. Der Abstand hat sich nicht verkürzt. Mir fällt nur eine mögliche Erklärung ein: Die Beiden sind erfahrene Leute und teilen sich Ihre Kräfte sehr gut ein. Was glauben die Beiden wohl, was da oben noch alles auf uns zukommen wird?
Vom Fels zurück ins Eis wird’s knifflig. Das Eis ist hier bedeutend steiler als weiter weg vom Fels, und es ist Wassereis. Glasklar und beinhart. Die Eisqualität in der Route wird nun auch schlechter. Die Firnauflage ist nur noch dünn. Zwischen dem Firn und dem Eis gibt es eine Luftschicht. Die Steigeisen muß ich jetzt stärker antreten, damit die Frontalzacken im harten Eis Halt finden. Mit den Eisgeräten gibt es keine Probleme. Den linken Pickel muß ich mit leichtem Zug einschlagen - für den rechten Pickel genügt es, wenn ich ihn auf das Eis aufdrücke, soviel Biß hat er. Steiler ist die Wand hier, und die Intervalle zwischen den Pausen in den kleinen selbstgeschlagenen Eislöchern werden immer kürzer. Noch bis zur nächsten kleinen Firninsel, und wieder hacke ich eine Stufe.
Gestern abend haben wir uns entschlossen, nicht entschieden. Wir haben uns entschlossen, die Valsorey-Nordwestwand zu dritt zu versuchen. Eckhard konnte wegen seines Knöchels nicht mit, und somit war der Plan hinfällig, der darin bestand, daß Eckhard und ich die leichtere Nordwestwand des Combin de Grafeneire hochsteigen sollten. Für den Fall, daß ich den Schwierigkeiten nicht gewachsen sein sollte, wollten wir ein Seil mitnehmen. Hans Hein und Karl haben so viel Erfahrung im Eis, daß sie diese Wand, die keine objektiven Gefahren birgt, seilfrei durchstiegen hätten.
Entscheiden, ob wir in die Wand einsteigen oder nicht, wollten wir uns erst am Einstieg. Die Entscheidung würde von der persönlichen Verfassung und noch mehr von den Verhältnissen am Berg abhängen. Schon um acht Uhr legten wir uns schlafen. Die Rucksäcke waren längst von allem unnötigen Ballast befreit und danach nochmals um die Hälfte geleert worden. Vor dem Einschlafen stellte ich mir vor, wie ich diese Wand emporsteigen würde. Ganz leicht würde ich sein und wie ein Vogel vom Wind in die Höhe getragen werden....
Es ist jetzt die kälteste Tageszeit, so um Sonnenaufgang. Immer, wenn ich zu lange in den Stufen stehenbleibe, bekomme ich die Kälte zu spüren. Die Wand erfordert jetzt mehr Konzentration. Nervosität oder gar Angst habe ich nicht. Das wäre auch sicher schädlich. Im Gegenteil: Ich bin sehr gelöst, fühle, daß ich lebe. – Und genieße es.
Pickel rechts. Pickel links....
Genau in der Fallinie des Austiegscouloirs lädt ein dicker Stein zum Ausruhen ein. Setzen kann ich mich zwar nicht, dafür ist der Stein zu klein, aber oberhalb des Steines hat sich im Frühjahr der Schnee aufgestaut, und jetzt ist dadurch die Steilheit des Eises, das aus dem Schnee entstanden ist, nicht so groß.
Hier, 100m unter dem Ausstieg, denke ich schon wieder an den Abstieg. Als wir heute früh um drei Uhr durch die sternenklare Mondnacht über den Corbassiere-Gletscher in gebührendem Abstand unterhalb des berüchtigten Corridors aufstiegen, hörten wir öfters Eiswürfel fallen. Der Corridor ist gefährlich.
Es ist eine Passage, die unterhalb einer gewaltigen und äußerst aktiven Seracmauer entlang führt. Wer einmal im Corridor ist, hat keine Möglichkeit mehr, den herabstürzenden Eisbrocken auszuweichen. Die beste Chance, den Corridor unbeschadet zu beschreiten, besteht darin, den Aufenthalt so kurz wie möglich zu gestalten. Da wir durch den Corridor absteigen wollen, können wir ihn im Laufschritt überwinden. Das wird nur ein paar Minuten dauern. Wer durch den Corridor aufsteigt, befindet sich mindestens eine Stunde lang in der akut durch Eischlag gefährdeten Zone.
Noch bin ich aber in der Nordwestwand. Das Eis erreicht jetzt die maximale Neigung von 60°. Aber es geht gut. Das Seil werde ich nicht benötigen. "Wer gesund an Leib und Seele ist, kann 60° steiles Eis klettern" hat gestern einer gesagt. 50m höher, genau da, wo das Austiegscouloir am engsten und steilsten ist, höre ich Karl, wie er mir von unten zuruft: "Gratuliere, Rudi!". Ich rufe nicht zurück, Karl würde es kaum hören. Der Wind weht schon bergwärts, und Hanns Hein und Karl sind immer noch 200m tiefer. So winke ich nur mit dem Eisbeil.
Die Steilheit nimmt ab. Der Gipfel glänzt ganz weiß im frühen Licht der Sonne. Nur noch ein paar Schritte über den kurzen Firngrat, und der höchste Punkt ist erreicht. Es ist zwanzig Minuten nach acht.
Meine erste große Eiswand. Auf den Gipfelfelsen lege ich den Rucksack ab. Die Sonne scheint. Sie wärmt schon ein wenig. Mit niemandem in der Welt würde ich jetzt meinen Platz tauschen wollen. Es ist ganz still. Nur die Geräusche von Schritten im hartgefrorenen Schnee sind zu hören. Sie gehören zu einem Bergsteiger, der gerade vom Combin de Valsorey absteigt, um zum Hauptgipfel zu gelangen. Er braucht 30 Minuten. Dann kommt die nächste Seilschaft an. Engländer. Sie sind von der Valsorey-Hütte aufgestiegen, über die Südwestwand.
Fünf Minuten nach Neun: Karl steigt aus dem Couloir, kurz darauf Hanns Hein. Wir gratulieren einander, machen Fotos und freuen uns. Wir genießen den Gipfel noch eine halbe Stunde lang. Unterhalten uns mit den Engländern und dem Einzelgänger, der vom Hauptgipfel zurück ist. Dann brechen wir auf, steigen erst etwas ab und erreichen dann ohne Mühen den Hauptgipfel.
Hier hat uns die Kälte wieder. Es weht ein steifer Wind. Ein paar Fotos, und wir verlassen diesen kalten Ort. Der Firngrat über dem Hauptgipfel ist bilderbuchreif. Meterweit in den leeren Raum ragt eine gewaltige Wächte gleich einer Schaumrolle nach Süden hinaus. Wir queren eine Flanke nach Nordost zu einer Steilstufe, die "Mur de la Cote" heißt. Hier brauchen wir nochmals die Pickel, die wir am Gipfel schon gegen die Skistöcke getauscht hatten. Es geht über Firn durch die Steilstufe. Weiter, über einige große Spalten, bis zu einem Plateau. Vor uns: Der Corridor.
Es gibt keine Spur. So ist es ans uns, einen eigenen Weg durch das Spaltenlabyrinth unter den Eisbalkonen zu finden. Nach kurzem Suchen in noch relativ sicherem Gebiet finde ich den Durchschlupf längs durch eine Spalte, die auf ihrer ganzen Länge durch eine 10m breite Schneebrücke passierbar ist. Dann tief luftholen und rennen, was das Zeug hält. Grausig, was hier an Eisbrocken herumliegt. Und wie viele davon frisch abgebrochen sind. Tausende von Tonnen Eis. Ich laufe bis vor mir keine Eistrümmer mehr zu sehen sind. Hier bin ich sicher. Auch Karl und Hanns Hein kommen wenig später heil hier an. Jetzt kann uns nicht mehr viel passieren.
Hier unten tut die Sonne ihre Wirkung. Der Schnee ist schon sehr aufgeweicht, aber wir haben ja noch ein Seil. Vor der Gefahr eines Spaltensturzes können wir uns also wirksam schützen. Mit Ausnahme eines kleinen Ausrutschers meinerseits verläuft der Abstieg problemlos. Auf dem Gletscherhoden treffen wir überraschend auf Eckhard. Er hatte Bergführer gespielt. Drei Schwarzwälder hat er am Seil über den Gletscher erst hinauf, und dann wieder hinunter gezogen.
Jetzt gehen wir gemeinsam weiter. Um fünf Uhr sind wir an der Hütte. Es wird nicht meine letzte Eiswand sein.
Karl beschreibt die Ereignisse:
Die Wand ist in gewisser Weise nur Routine. Sehr schön zwar, aber nur Beiwerk für mich. Natürlich nicht so für Rudi, dem ich aus ehrlichem Herzen zu seiner ersten, bravourös gemeisterten Eiswand gratulieren kann. Auch im Abstieg zeigt Rudi sich als Herr der Situation. Schade, daß Eckhard wegen seiner Knöchelverletzung nicht dabei sein konnte. Auf Hanns-Hein und mich wartet noch die Aletschhorn Nordwand. Ein lang gehegter Wunsch geht in Erfüllung. Aber bei den derzeit vorherrschenden Verhältnissen sollte es eine harte und eine der anspruchsvollsten Eistouren werden, die wir beide je gemacht hatten.
Als Fazit aus dieser Woche aber kann ich mit Pindar sagen: "Die Liebe zu den Bergen ist die schönste."
Verborgen, konnten sie nicht erkannt werden.
Behutsam waren sie,
wie wer im Winter einen Fluß überschreitet.
Vorsichtig, wie wer alle Namen fürchtet,
Zurückhaltend wie ein Gast.
Zergehend wie Eis, das schmelzen will.
Einfach wie Rohholz.
Leer wie ein Tal.
Undurchsichtig wie getrübtes Wasser.
Wer kann das Trübe, indem er es stillt,
allmählich klären?