Datum: 19. 12 1999
Autor: Karl Zöll
Der Piz Palü ist einer meiner Lieblingsberge. An keinem anderen Berg habe ich mehr verschiedene Routen begangen als am Piz Palü. Hin und her habe ich seine drei Gipfel überschritten, auf verschiedenen Nordwandrouten, den Ost-, Mittel- und Westgipfel erreicht.
So erscheint es fast logisch, dass er auch im Zusammenhang mit dem Thema Biwak eine Rolle spielt.
1986 stand der Gasherbrum II im Karakorum auf meinem Programm. Für meine Begriffe damals ein fast utopisches Ziel. Da hieß es natürlich im Rahmen unserer alpinen Möglichkeiten Generalprobe zu betreiben. Der Piz Palü passte genau in diesen Rahmen, ließ sich seine Winterbesteigung doch ideal mit einem Skilanglauf-Urlaub verbinden. Hier sollte ich einflechten, dass ich zu jener Zeit neben Laufen und Bergsteigen noch Skilanglauf als dritte Natursportart in ambitionierter Form betrieb. Übrig geblieben als Herzstück ist bist heute das Bergsteigen. Damals stand jedes Jahr eine Woche Skilanglauf im Engadin auf dem Urlaubsprogramm mit dem Engadiner Skimarathon als Abschluss, regelmäßig Anfang März.
1986 nun sollte sich dann irgendeine von den bekannten Nordwandrouten auf den winterlichen Piz Palü anschließen.
Mit von der Partie waren zwei weitere Gasherbrumaspiranten, nämlich Manni und Wolfgang, sowie Hanns-Hein. Auf der Diavolezza gesellte sich noch ein Österreicher dazu, der sich dort mit Tourenski herumtrieb.
Wie man sieht, befinden wir uns schon auf der Diavolezza, dieser berühmten Schaukanzel vor dem Piz Palü. Manni und Wolfgang sind schon seit einigen Tagen dort. Sie haben einige Nächte im Zelt hinter sich, eigentlich unlauterer Wettbewerb mir gegenüber. Sie sind schon mit winterlichen biwakähnlichen Bedingungen vertraut und außerdem höhenangepasst, während ich armes Schwein direkt aus den zentralgeheizten Gefilden der Niederungen komme.
Nach eingehender Inspektion der Nordabstürze des Palü legen wir unter Berücksichtigung der momentanen Verhältnisse die Route für den kommenden Tag fest. Es soll eine Kombination von Spinas- oder Westpfeiler im unteren Teil und der Nordwestwand im oberen Bereich werden: also eine etwas modifizierte Corti-Führe von 1939.
Den theatralisch-dramatischen Sonnenuntergang genießen wir noch vor der Hütte; als es dann bitterkalt wird, ziehen wir uns zum Schlafen zurück: der Tiroler, Hanns-Hein und ich in die Hütte, Manni und Wolfgang in ihr kleines Zelt. Wecken sollen uns die beiden Zeltbewohner, wenn sie zum Frühstück in die Hütte kommen. Am Morgen fährt uns der erste Schreck des Tages in die Glieder. Als Hanns-Hein und ich wach werden, ist es bereits zwei Stunden später als vorgesehen. So schnell wie möglich renne ich zum Zelt, in dem ich unsere beiden "Wecker" noch seelenruhig in Morpheus' Armen liegend vorfinde. Immerhin ein Indiz dafür, dass unsere Seelenruhe während der Nacht durch keinerlei Nervosität und Spannungsgefühle beeinträchtigt war.
Im Grunde ist eis viel zu spät für diese Tour, vor allem in Anbetracht der kurzen Wintertage. Wir wischen aber alle Bedenken weg, denn die lange geplante Bergfahrt ist gewissermaßen schon ein Teil von uns geworden, sie ist im Kopf und im Herzen schon fest verankert.
Der Aufbruch gestaltet sich aufgrund des Zeitdrucks naturgemäß etwas chaotisch. Hastig wird alles zusammengerafft, ein Minimum an Frühstück findet während des Gehens statt. Einen Vorteil hat die Verspätung allerdings: es ist schon ein wenig hell, als wir losziehen. Der Morgen ist keineswegs strahlend. Hochnebel verhindert den Blick auf den Himmel, die Wand wir größtenteils von Nebelschleier eingehüllt. Unser Tiroler spurt mit seinen Skier voraus, für uns Fußgänger eine willkommene Erleichterung.
Als Hanns-Hein auf halbem Weg dorthin die Wand an diesem Morgen zum ersten Mal wenigstens in den unteren Partien gewahr wird, da sie sich allmählich aus den Nebelschleiern schält, da drücken ihn plötzlich seine Schuhe, oder sollte es wahrheitsgemäßer heißen: der Anblick haut ihn aus den Schuhen! Jedenfalls sind wir ab jetzt nur noch vier Wandanwärter.
Nachdem die Vorbereitungen für den Einstieg auffällig langsam und geradezu bedächtig vonstatten gegangen sind - vielleicht möchte der eine oder andere aus der Gruppe noch im letzten Moment den Rückzug antreten - wird eine Steilschneewühlerei großen Stils in Angriff genommen. Keiner hat sich also eine Blöße gegeben. Doch wie es da drinnen aussieht, geht niemanden was an. Und wie es da oben aussieht, geht auch niemanden etwas an.
Dafür sorgt der Nebel, der die Wand nach oben hin gnädig verhüllt.
Wir bewegen uns zunächst in einer schmalen Schneerinne, die den eigentlichen Pfeilerkamm hautnah rechts flankiert. Obschon teilweise sehr steil, ist in diesem Teil des Anstiegs die Gefahr, abzustürzen, praktisch ausgeschlossen. Eher besteht die Wahrscheinlichkeit, stecken zu bleiben, im Schnee fast zu versaufen. Auf unseren Fotos - ja, wir haben uns sogar den Luxus geleistet, noch zu fotografieren - sieht man Gestalten, die sich teilweise bis zur Brust im Schnee oder sogar in einer Art von Schwimmstil lediglich mit Kopf und Armen aus dem Schnee ragend vorwärts arbeiten. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: das waren aber wirklich die spektakulärsten Stellen. Vielleicht hätten wir Schneeschaufeln mitnehmen sollen! Gottlob war die Schneebeschaffenheit leicht und locker.
Irgendwann stoßen wir an eine Felsbarriere. Der direkte Weiterweg ist ohne Sicherungsmittel tabu. Ohnehin hatten wir ja die Wand als Weiterweg ausgekundschaftet. Also queren wir ein gutes Stück nach rechts in die eigentliche Wand hinaus, eine Art Schützengraben hinterlassend.
Dann, von einem Blick auf den anderen, erleben wir eine böse Überraschung: Die Oberfläche des nun vor uns liegenden Wandteils, noch knapp vierhundert Meter hoch, besteht durchgehend aus grauschwarzem glashartem Wassereis. Da von einer dünnen Reifschicht überzogen, war der wahre Zustand dieses Abschnittes von der Diavolezza aus nicht erkennbar. Wir haben es von den Bedingungen und Strukturen her praktisch mit zwei verschiedenen Wänden zu tun, die in zwei Etagen wie mit dem Lineal voneinander getrennt sind. Der untere Teil, den wir umgangen haben, ist durch Schründe und Seracs reich gegliedert und tief verschneit. Den vor uns liegenden Teil habe ich eben beschrieben. Wir kommen also von einem Extrem in ein anderes, noch härteres, vom Regen in die Traufe. Es beginnt ein Spitzentanz auf den Frontalzacken, ein Hängen und Hochziehen an den Eisgeräten, die manchmal erst nach mehreren Versuchen minimalen aber doch ausreichenden Halt finden, weil oft beim ersten oder zweiten Schlag Eisstücke und Schollen wie Glasscherben in die Tiefe splittern. Es ist in erster Linie eine Sache der exakten Belastung der Hilfsmittel.
Allmählich rebellieren in immer kürzeren Zeitabständen vor allem die Wadenmuskeln gegen die ungewohnte Zumutung. Dann wird es Zeit hastig aus dem kompakten, extrem harten Winterwassereis eine Raststufe zu hacken, die möglichst einen Fuß quer zur Wand aufnehmen kann. so hockt man, die Eisgeräte als Halt für die Arme benutzend wechselweise mit einem Fuß in der Querkerbe, den anderen Fuß bei gleichzeitiger Knieauflage unbelastet an die Wand gelehnt, bis der Schmerz und der sich immer häufiger ankündigende Krampf sich lösen. Jetzt ein Königreich für eine solide Eisschraube, die als künstlicher Rastpunkt hervorragende Dienste leisten würde.
Zwischen den kurzen Rasten versucht man mit höchstmöglichem Gehtempo jeweils eine möglichst lange Strecke zu überwinden, eine Strecke, die man sich mit Hilfe eines markanten Punktes als Ziel - zum Beispiel ein Stein, der aus dem Eis herausragt - vorher als absolutes Muss eingehämmert hat. Der beherrschende Gedanke dabei: so schnell wie eben möglich aus der Wand herauskommen! Nach dem Motto: Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende! Man wird sozusagen zu einem Automaten, in den man oben einen Willensimpuls hineinschmeißt, und der dann Muskeln und Organe bis zur Schmerzgrenze in Gang hält. Als man sich auch die Arme irgendwann an dem harten Eis lahm geschlagen hat, dreht sich alles nur noch um die Frage: Wann erreiche ich endlich das "Gelobte Land"? Hier in Form einer kleinen Grateinkerbung, dort oben recht neben dem Westgipfel. Wie sich doch Ansprüche und Relationen in solchen Situationen verschieben können.
Einzige Abwechslung in die quälende Monotonie bringt ein faustgroßer schwarzer Stein, der vom Grat kommend, mit perfidem Surren scheinbar scheinbar genau auf mich zuhält. Cool bleiben, um es auf Neudeutsch zu sagen, lautet jetzt die Devise. Ruhig stehen bleiben, mögliche Richtungsänderungen beobachten, wenn nötig im letzten Augenblick mit knapper Bewegung ausweichen, wie seinerzeit Cassius Clay den Schlägen seiner Gegenüber begegnete.
Auf einmal sitze ich auf dem Grat und lasse die Beine in die Wand baumeln. Erleichterung kommt jedoch nicht auf. Die Gelegenheit ist günstig, ein paar Fotos von meinen Mitstreitern zu machen, die sich noch in voller Aktion in der Wand befinden. Unser Freund aus Tirol kommt als letzter auf dem Grat an, kein Wunder, hatte er doch den zusätzlichen Skiballast zu schleppen.
Wie froh bin ich, dass es jetzt weiter geht. Mittlerweile friere ich nämlich jämmerlich, denn während des Wartens hat mich der aufgekommene steife Wind ziemlich ausgekühlt. Gottlob hat Manni trockene Handschuhe für mich übrig, denn meine eigenen sind völlig durchnässt, und meine Fingerkuppen beginnen, sich teilweise weiß zu färben.
Nach kurzer Beratung entschließen wir uns für die Überschreitung der drei Palü-Gipfel, also Richtung Osten als Weiterweg. Niemand von uns ist sich im Augenblick bewusst, dass uns in Kürze die Nacht in ihren schwarzen Klauen halten wird. Vorerst geht es zügig über den kleingezackten Spinasgrat über den Westgipfel und weiter zum Hauptgipfel. Die Kletterei ist trotz Schnee und Eis nicht schwierig.
Am Mittelgipfel wird das obligatorische Gipfelfoto geschossen, quasi im letzten Büchsenlicht. Es zeigt als Endprodukt einige doch recht ramponierte Gestalten: keine Spur von Gipfelglück!
Von hier aus kenne ich den Weg bereits, was uns aber letztlich nicht hilft. Über den zum Teil messerscharfen Verbindungsgrat zwischen Mittel- und Ostgipfel mit seinen gefürchteten Wächten gehen wir irgendwie mit schlafwandlerischer Sicherheit hinüber. Vor diesem Grat hatte ich Jahre zuvor mit Hanns-Hein am hellen Tag sogar gekniffen. Am Ostgipfel angekommen sehen wir im wahrsten Sinne des Wortes nur noch schwarz. Es ist endgültig pechschwarze Nacht.
Aber hier oben können wir in der Nacht ohne jegliche Biwakausrüstung nicht bleiben, zumal der Wind immer stärker wird. Bei mir kommt noch ein Handicap hinzu, das ich eigentlich für behalten müsste, denn mit eigenen Dummheiten sollte man nicht hausieren gehen. Ich stehe praktisch mit der warmen Version meiner Skilanglaufkleidung hier oben, lediglich ergänzt durch eine warme Jacke. Zu Hause hinterm warmen Ofen hatte ich diese Art von Bekleidung für ausreichend gehalten; ich wollte einfach nicht so viel Gepäck mitschleppen. Pure Bequemlichkeit spielte also auch eine Rolle.
Übrigens, wer hatte denn bis zum jetztigen Stand der Dinge einen Gedanken an ein Biwak verschwendet? Irgendwann später ist mir dann klar geworden, dass ich hier mit mehr als einem blauen Auge davon gekommen bin. Aber nicht nur ich allein hätte allen Grund gehabt später irgendeiner Art von Glücksgöttin ein Dankopfer darzubringen, hatte doch jeder von uns, der eine mehr, der andere weniger, durch subjektives Fehlverhalten, beispielsweise viel zu später Aufbruch - weitere Fehler möge der aufmerksame Leser selber finden - logischerweise subjektive Gefahren heraufbeschworen, die konsequenterweise zu einer unabsehbaren, äußerst prekären Situation geführt hatten.
Man könnte unsere Lage auf dem Piz Palü geradezu als Musterbeispiel anführen, wenn man jemandem den Sachverhalt der subjektiven alpinen Gefahren klar machen müsste, als ein Beispiel, das deutlich vor Augen führt, wie solche Gefahren zustande können und wohin sie führen können.
Glücklicherweise und sinnvollerweise ist man sich der Bedrohlichkeit einer solchen Situation im Grunde nicht bewusst, es fehlt uns aber auch jegliche Vorstellung, wie es weitergehen könnte. Vorerst besteht allerdings nur eine Möglichkeit des Weiterkommens. Wir tasten uns den recht steilen Ostgrat hinunter. Von unseren Lichtquellen können wir auch keine Erleuchtung erwarten, denn die waren, wenn ich mich recht entsinne, in einem desolaten bis unbrauchbaren Zustand beziehungsweise nicht vorhanden. Wir waren doch schließlich im Hellen aufgebrochen, und ein Biwak im Winter (brrrrrrr...) am Piz Palü stand doch zu keinem Zeitpunkt zur Debatte. So etwas kommt für einen normalen Sterblichen überhaupt nicht in Frage.
Am Fuße des Grates sehen wir uns, wie nicht anders zu erwarten, einer Lage gegenüber, die eine fatale Ähnlichkeit mit einer Falle hat. Im spärlichen Schein unserer "Festbeleuchtung" wird ein Gelände erkennbar, das seinen Spaltenreichtum auch unter diesen Umständen kundtut. Es wird auch dem größten Optimisten unter uns klar, dass es einem Himmelfahrtskommando gleichkäme, zu versuchen, ohne Andeutung einer Spur im Dunkeln hier weiter zu kommen (siehe Zustand unserer Lampen).
Ist die Falle jetzt endgültig zugeschnappt? Ist jetzt das letzte Fünkchen Hoffnung endgültig erloschen?
Aber nein doch! Wie könnte sonst der Chronist bis hier her berichtet haben?
Oder hat sich etwa ein Tagebuch gefunden, wie seinerzeit nach Captain Scotts letzter Fahrt zum Südpol, um der Nachwelt von einem vergeblichen, aufrechten, heroischen Kampf gegen den Untergang zu künden?
Nein, aber an dieser Stelle muss erst einmal Schluss sein. Das gesamte "Bergepos" steht zwar schon auf dem Papier, aber bei der Feinarbeit daran wurde es offensichtlich immer länger. Wer Lust hat, und Detektiv spielen will, kann sich Gedanken machen, wie wir wohl aus dieser vertrackten Situation mit heiler Haut wieder davongekommen sind, falls es sich nicht schon herumgesprochen hat.