Datum: 09. 09 1988
Autor: Rudi Berners
Etwas anders als üblich fällt der Tourenbericht über die "Viertausender im Wallis" aus. Während sonst eine ausführliche Beschreibung über den gesamten Tourenverlauf im Info zu lesen ist, will ich diesmal nach einem groben Überblick über die Tour ein Ereignis besonders herausheben. Der Grund dafür ist, daß ein Bericht über eine zwölftägige Tour für die, die nicht dabei sein konnten zu langweilig ist, und daß die Ereignisse vom 17. September uns alle interessieren sollten.
Am 10.9.1988 fuhren Eckhard Klinkhammer und Udo Preetz zusammen mit mir ins Wallis um in knapp zwei Wochen einige der über viertausend Meter hohen Berge zu besteigen. Viertausender, für die alpinen Maßstäbe wirklich herausragende Berge. Es gibt nur 60 Viertausender in den Alpen, auch wenn einige Bergsteiger von den "Hundert Viertausendern" sprechen.
Bei unserer Ankunft im Wallis wollten wir zuerst einmal das Chalet " Malepartus" in Randa im Mattertal sehen. Die Familie Blettner, seit der Gründung des Vereins dabei, hatte uns angeboten, dieses wunderschön gelegene, heimelige Haus als "Basislager" für unsere Unternehmungen zu nutzen. Wir haben uns gerne dort aufgehalten und danken der Familie Blettner auch an dieser Stelle recht herzlich.
Von Randa aus ging es weiter mit der Bahn nach Zermatt und mit der Luftseilbahn zur Station Trockener Steg. Nach einer halben Stunde Fußmarsch war dann die Gandegghütte in 3029m Höhe erreicht.
Am nächsten Tag wurde gleich die Eingehtour zur ersten Viertausenderbesteigung. Das Breithorn(4165m) erreichten wir über seinen Normalweg ohne Schwierigkeit. Am Gipfel wurden wir mit einer grandiosen Aussicht belohnt. Der Breithorngrat und die Monte-Rosa Gruppe bilden hier zusammen mit den Zwillingen und dem Liskamm eine Kulisse, wie man sie sonst nur im Himalaja vermuten würde. Eine entzündliche Erkältungskrankheit zwang mich für die nächsten Tage zur Ruhe. Eckhard und Udo übten unterdessen Steileisklettern auf dem Theodulgletscher. Im Anschluß stiegen wir nach Randa ab, um uns im Chalet Malepartus auf die nächsten Unternehmungen vorzubereiten. Da Eckhard und Udo sich durch meine Erkrankung nicht um den Gipfelerfolg bringen lassen wollten, gingen Sie am 14.9. zur Domhütte um Tags darauf den höchsten Berg, der ganz auf Schweizer Boden steht, zu besteigen. Eine Wetterverschlechterung zwang die Beiden dann jedoch zum Abstieg noch am gleichen Tag.
Nach einem Ruhetag fuhren wir dann gemeinsam ins italienische Alagna-Valsesia. Das Valsesia ist ein Tal an der Südseite des Monte-Rosa Massivs. Wir hofften hier ein anderes Wetter vorzufinden. Aber schon beim Aufstieg von der Bergstation der Seilbahn zur Punta Indren zur Gnifettihütte schneite es, obwohl während der Hinfahrt am Ortasee die Sonne von einem strahlend blauen Himmel schien.
Von der Gnifettihütte aus unternahmen wir am 16. September eine Tour zur Vincentpyramide, die wir jedoch wegen des dichten Schneetreibens und starkem Wind bei Temperaturen um –10° C abbrachen und statt der Vincentpyramide (4215m) nur das nähergelegene Balmenhorn (4167m) von der Südost-Flanke aus bestiegen.
Die Ereignisse vom Samstag den 17.9.1988 habe ich im Tagebuch so festgehalten:
Der Tag beginnt für Eckhard, Udo und mich sehr geruhsam: Wir stehen spät auf; hat es doch gestern den gesamten Tag bis in die Nacht hinein geschneit. Am Vincentjoch standen wir mittags im Schneegestöber und maßen eine Temperatur von –10° bei sehr heftigem Wind. Viel war also nicht zu erwarten für heute. Doch als wir einen Blick aus dem Fenster werfen, sehen wir, wie sich eine Schlange von ca. 25 Bergsteiger den Weg von der 3611m hoch gelegenen Gnifettihütte über den Lisgletscher in Richtung Lisjoch bewegt. Außerdem scheint die Sonne, - von ein paar kleinen Wölkchen abgesehen. Schneefahnen an den Graten vom Liskamm und an der Vincentpyramide geben einen Vorgeschmack auf unvermindert anhaltenden Wind und niedrige Temperaturen. Man kann sie verstehen, die Wochenendbergsteiger, die am Vortag mit der Seilbahn von Alagna-Valsesia zur Punta Indren gekommen sind um dann in 1,5 Stunden zur Gnifettihütte in 3611m Meereshöhe aufzusteigen. Bei dem schönen Sonnenschein wollen wir auch noch den Weg über das Lisjoch zur Signalkuppe, dem Berg auf dem das höchstgelegene Unterkunftshaus Europas, die Capanna Regina Margherita steht, angehen.
Wir seilen uns an und betreten gleich hinter der Hütte den stark zerklüfteten Lisgletscher. Sofort macht sich die Schneemenge bemerkbar: Spalten, die gestern noch zu sehen waren, lassen sich jetzt nur noch erahnen; und die Spalten die gestern nur zu erahnen waren erkennt man erst dann, wenn man drinsteckt.
Sondieren war angesagt. Ich war froh, ohne Spalteneinbruch bis zum Aufschwung zum Lisjoch gekommen zu sein, denn auch die Spur der Vorgänger war in weiten Teilen buchstäblich vom Winde verweht.
Nach einigen Serpentinen auf der neu angelegten Spur (es ist mir unverständlich, weshalb man bei diesen Firnverhältnissen mit Steigeisen geht und eine so steile Spur legt), vorbei an den gähnenden Abgründen riesenhafter Spalten, sehen wir eine Viererseilschaft einige hundert Meter höher absteigen. Als ich um die nächste Serpentinenkehre gehe, sehe ich nur noch einen der Bergsteiger, und zwar liegend auf dem Bauch. In fünf Minuten sind wir bei ihm.
Trotz erheblicher Verständigungsprobleme erfahre ich, daß drei Bergsteiger der italienischen Seilschaft in die Gletscherspalte, die sich bergseitig von dem liegenden Mann auftut, eingebrochen sind. Zu einer weiteren Kommunikation reichen weder unsere Kenntnisse in Italienisch noch die der Verunglückten in Deutsch oder Englisch. Als erste Maßnahme fixieren wir die Gestürzten mit einem Prusikknoten an einem eingerammten Pickel. Als wir dann den Seilletzten aus seiner unbequemen Lage befreien wollen, müssen wir feststellen, daß er an seinem Brustgurt direkt eingebunden ist. Da der Mann mir sehr hektisch und nervös erscheint, schneiden wir ihn nicht vom Seil ab. Die Gefahr, daß sich der Mann sonst, selbst in einer anderen Spalte wiederfinden könnte, ist mir zu groß. Nach ca. 10 Minuten am Unfallort kommen im Abstieg zwei verängstigt aussehende Bergsteiger, die nur mit einer Reepschnur aneinander gebunden sind, den Gletscher herabgestiegen. Ihr Angebot, in der Gnifettihütte Bescheid zu geben, wird offenbar vom Seilletzten, der immer noch auf dem Bauch liegt, angenommen. Zwischenzeitlich ist ein doppelter Flaschenzug aufgebaut, worden. Aber die Zugkraft reicht längst nicht aus, um die drei Gestürzten aus der Spalte zu befreien. Der Seilletzte weist jetzt energisch auf ein Reserveseil hin, daß in seinem Rucksack verstaut ist. Das weitere Vorgehen wird dadurch sehr begünstigt. Eckhard steigt in die Spalte ab und kann das zweite Seil am Seildritten anbringen. Zu seinem Vorteil ist der Seildritte mit einem Karabiner an Brust- und Sitzgurt angeseilt. Eine Minute später ist er wieder am Tageslicht. Eckhard steigt wieder ab, um den Seilzweiten an das Reserveseil anzuhängen. Am Zeitbedarf erkenne ich, daß es hier größere Schwierigkeiten gibt. Der Seilzweite hatte sich das Bergseil nur um den Bauch gebunden. Wie sich später herausstellt, wählte auch der Seilerste diese Anseil(un)art.
Zwei Beamte der Guardia di Finance, dem italienischen Zoll, die wir bereits am Vortag in der Gnifettihütte kennengelernt hatten, kamen bei ihrem Abstieg vom Lisjoch ebenfalls an den Gestürzten vorbei. Sofort begannen sie mit dem Aufbau einer Sicherung, um die Gestürzten zu bergen. Schnell erkannten sie jedoch, daß unsere Rettungsmaßnahmen schon sehr weit fortgeschritten waren und führten dann die Arbeit gemeinsam mit uns zu einem glücklichen Ende. Schon bald konnte der Seilzweite aus der Spalte gezogen werden. Eckhard hatte das Seil um seinen Bauch durchschneiden müssen und ihn am Rucksack an das rettende Seil angebunden. Zur Rettung des Seilersten stieg einer der Zöllner etwa 20m tief in die Spalte. Am Bergseil wurde der Verunglückte dann vorsichtig nach oben gezogen. Ein paar Schürfwunden und kleine Schnittwunden von der zerbrochenen Sonnenbrille waren die einzigen Verletzungen, die der Mann davontrug. Die Gestürzten waren alle nur sehr leicht verletzt und konnten aus eigener Kraft ihren Weg zur Hütte fortführen. Man kann hier sicher vom Glück im Unglück reden. Auch wir setzen unseren Weg nicht fort, sondern steigen zur Hütte ab. Die Schneeverhältnisse hatten sich während der einstündigen Rettungsaktion weiter verschlechtert.
Was wurde falsch gemacht? Was führte zum Spaltensturz und was erschwerte die Rettungsarbeiten?
Der starke Wind und der Neuschnee führten zu schlecht erkennbaren Brücken selbst über große Gletscherspalten. Diese Tatsache wurde von den offenbar unerfahrenen Italienern ignoriert.
Es wurde ein relativ kurzes Seil von etwa 25-30m eingesetzt. Eine Seilreserve für schnelle Rettungsmaßnahmen gab es nur in Form des mitgeführten Zweitseiles. Trotz der Länge von ca. 5-6m Seil zwischen den Bergsteigern wurde beim Gehen ein Abstand von höchstens zwei Metern eingehalten. Beim Spaltensturz konnte es so zum freien Fall kommen, dessen Wucht für die Kameraden nahezu unhaltbar ist.
Schließlich sind ja nicht nur der Seilerste, sondern auch die beiden Nachfolgenden eingebrochen.
Daß der Seilletzte den Sturz abfangen konnte, ist wohl die Folge davon, daß er sich springend über die 60cm breite Spalte bringen konnte und der Seilerste bereits im unteren Teil der Spalte verkeilt war. Von der Talseite der Spalte aus konnten bessere Haltekräfte erzielt werden als dies von der Bergseite aus möglich gewesen wäre.
Der Pickel des Seilletzten war nicht am Anseilgurt befestigt. So konnte es kommen, daß dieses wichtige Werkzeug auf der anderen Spaltenseite liegenblieb. Noch schlimmer: Auch für den weiteren Weg wäre ein Totalverlust des Pickels, zum Beispiel durch das Abrutschen in die Gletscherspalte, möglich gewesen.
Der einzige Bergsteiger der Seilschaft, der korrekt für die Begehung eines Gletschers angeseilt war, konnte auch am leichtesten aus der Spalte befreit werden. Das Anseilen um den Bauch oder nur mit einem Brustgurt kann rasch zum Hängetrauma mit Todesfolge führen. Die enge Spalte ließ zum Glück ein Abstützen der Gestürzten an den Eiswänden zu, so daß die Belastung durch das Bergseil gemindert wurde. Durch eine vernünftige Anseilart (Brust- und Sitzgurt mit einem Schraubkarabiner eingebunden) wäre auch das Durchtrennen des Seiles beim Seilzweiten nicht notwendig gewesen. Eine erhebliche Erschwernis bei der Rettungsaktion war die mangelhafte Kommunikationsmöglichkeit. Besonders bei Fahrten im Ausland sollten diese Schwierigkeiten künftig stärker berücksichtigt werden.
Als positiv erwies sich, daß auch Eckhard und Udo über Kenntnisse und Übungserfahrung, unter anderem auch aus unserem Eiskurs für Anfänger im letzten Jahr, verfügten. Ein derartiger Kurs wird mit Sicherheit ein weiteres Mal in unser Tourenprogramm aufgenommen.
Nach dieser Rettungsaktion stiegen wir ins Tal ab und fuhren zurück ins Mattertal. Udo verfolgte von jetzt an eigene Interessen in Südtirol. Da auch Eckhards Gesundheit angekratzt war, legten wir einen Ruhetag ein. Mit einem leichten Programm nahmen wir dann die Aktivitäten wieder auf. Am Gornergrat bestaunten wir das gleißend helle Licht der Gletscher im Monte-Rosa Gebiet. Ein Ausblick, der in den Alpen nirgendwo seines Gleichen findet. Im Abstieg vom Gornergrat, begegneten wir dann der Steinwildherde, die hier seit einigen Jahren ansässig ist. Fast 30 Tiere umfaßte die Herde nun. Mir war sie von den Touren der vergangenen Jahre noch viel kleiner in Erinnerung. Steinwild ist sehr zutraulich.
Die Tiere werden nicht bejagt und verfügen über hervorragende Kletterkünste. Ohne sie aus der Ruhe zu bringen, kann man sich den Tieren bis auf etwa 5m nähern.
Am Donnerstag, den 22. September versuchten Eckhard und ich nochmals die Dombesteigung. Als wir an der Domhütte ankamen mußten wir zunächst feststellen, daß Hütte schon nicht mehr bewirtschaftet und die Wasserleitung eingefroren war. Wir machten aus der Not eine Tugend und nahmen mit den anderen Bergsteigern, die zur Domhütte gekommen waren, den Hüttenbetrieb wieder auf. Während Eckhard sich um die Küche kümmerte, holten wir anderen Wasser vom nahe gelegenen Festigletscher.
Am Freitag brachen wir morgens um 10 vor 4 auf. Am Festijoch halfen wir drei anderen Bergsteigern, dieses Hindernis, eine ca. 70m hohe Felsbarriere, zu überwinden. Im Laufschritt ging es unter den bedrohlichen Seracs des Hohberggletschers vorbei. Der Gipfel bot eine herrliche Aussicht mit einer Fernsicht von ca. 200Km. Auch im Abstieg war unsere Hilfe bei der Überwindung des Festijochs für die drei Bergsteiger erforderlich gewesen, denen wir am Morgen hier hinauf geholfen hatten. Deshalb kamen wir erst um 20 Uhr an der Domhütte an. Wir fühlten uns noch munter und gingen gleich weiter an den Abstieg nach Randa wo wir kurz vor Mitternacht ankamen.
Nach einem Schlaf, wie man ihn sonst nur den Murmeltieren zuspricht, machten wir uns am Samstag auf den Heimweg. Drei Viertausenderbesteigungen waren uns geglückt. Um aber jedem vorzugreifen, der meint, wir hätten die Tour nur dazu gemacht, um ein paar Gipfel abzuhaken, möchte ich zwei Dinge sagen: