Mittwoch, 26. August
Nach rasanter Fahrt sind wir nun am Mittag im Fischleintal der Dolomiten angekommen. Wie auf einer Postkartenidylle wird der blaue Himmel von schroffen, weißen Kalkwänden eingerahmt und ein lieblicher Bach plätschert durch das baumbestandene Tal.
Wir packen unsere Rucksäcke und machen uns auf den Weg zu unserer ersten Hütte, der Büllelejochhütte. Es geht bergauf, anfangs noch im schattigen Wald, aber bald erreichen wir die Baumgrenze. Nach einem Schnellstart sind wir nicht „leicht angeschwitzt“, wie Volker sich so gerne ausdrückt, sondern nass und durchgeschwitzt. Zwischen dem Einserkofel und der Schusterplatte als gigantische Kulisse steigen wir immer höher und lassen das Zivilationsgewusel des Tales hinter uns. Am Büllelejoch haben wir bereits gut tausend Höhenmeter erwandert und der Blick erfasst ein neues Felsental, das vom majestätischen Zwölferkofel dominiert wird. Hier erleben wir es zum ersten Mal, dass der Weg auf horizontalen Felsbändern verläuft. Typisch für die Dolomiten sind schroffe Kalkwände, die aber von waagerechten Schichten wie Lamellen durchzogen werden. Manche dieser Schichten sind durch Erosion so ausgespült, dass ein schmaler, ausgesetzter Pfad darauf verläuft.
Wir erreichen die kleine, aber urgemütliche Büllelejochhütte mit der freundlichen Hüttenwirtin. In der Abendsonne sitzen wir entspannt auf einem Felsensims vor der Hütte und löschen unseren Durst mit Radler, während Albert noch eine Extrarunde durch die Berge läuft. Beim leckeren Abendessen wird viel erzählt, wobei Rolf mit seinen Geschichten und Informationen rund ums Fliegen unser Interesse weckt. Anschließend geht es über eine Hühnerleiter durch eine Bodenluke in den kleinen Schlafraum. Sobald mehr als 13 Gäste übernachten, wird der Gastraum zum zusätzlichen Schlafraum umfunktioniert.
Donnerstag, 27. August
Am nächsten Morgen starten wir bei Bilderbuch-Sommerwetter zu unserem ersten Kletterabenteuer, dem Alpini-Steig. Dieser zieht sich als langes, leicht ansteigendes Band durch die nahezu senkrechte Westwand des Elferkofels und wurde von italienischen Soldaten im Ersten Weltkrieg angelegt. Es empfiehlt sich, nicht zu stolpern und sich nicht mit dem Blick in die Tiefe zu belasten. Aber zum Glück gibt es ja an den kritischen Stellen Stahlseile am Fels, so dass wir uns mit unseren Karabinern einhängen können.
Obwohl der Pfad nicht allzu schwierig ist, fühle ich ein leichtes Magenkribbeln, da ich nicht weiß, was uns noch so erwartet. An zwei Stellen hat die Felswand einen canyonartigen Einschnitt, der von Oben bis Unten die gesamte Wand zerschneidet. Unser Steig folgt dem Canyon bis in die schattige Tiefe des Bergschrundes, der in einer Eishöhle ausläuft. Eiskalter Lufthauch kühlt unsere erhitzten Körper.
Nach einem kurzen steilen, aber seilgesicherten Abstieg erreichen wir eine Abzweigung. Nichts ahnend nehmen wir den nördlichen Pfad und kommen auf eine Hochfläche unterhalb des Rotwandgipfels. Neben morschen Holzplanken liegen sonnengebleichte Knochen herum, vielleicht ein Relikt aus dem Ersten Weltkrieg, als hier in der Gegend Italiener erbittert gegen Österreicher kämpften. Kriegshistorische Spuren werden wir auf unserer Tour noch mehrfach begegnen. Wir machen es uns zwischen den Holzresten und Knochen gemütlich und rasten. Die zwei Oldies, also Rolf und ich, halten ein kurzes Mittagsschläfchen.
Über seilgesicherte Passagen erreichen wir den 2965 Meter hohen Gipfel der Rotwandspitze und genießen die großartige Aussicht. Ein gesperrter, abwärts führender Klettersteig lässt gewisse Zweifel am richtigen Weiterweg aufkommen. Also nehmen wir einen Pfad, der in nordwestliche Richtung zeigt und wieder auf ein horizontales Felsband einer Steilwand verläuft. Um nicht an unserer Hütte vorbeizulaufen, müssen wir aber jetzt absteigen. Zum Glück gibt es hier ein Stahlseil, das abwärts führt. Frohen Mutes klinken wir uns ein und steigen ab. Verdammt steil, eigentlich senkrecht. So geht es von Standplatz zu Standplatz, immer in der Hoffnung, dass es mal etwas leichter wird. Aber unter mir schallt es herauf: „Wird noch schlimmer, Haken sind aus der Wand gebrochen!“ Und der Talboden ist noch weit unten. Irgendwann erreichen wir aber dann doch wieder gangbares Gelände, allerdings ohne Albert. Volker ist erfahrener Berufsfeuerwehrmann mit einer Ausbildung zum Höhenretter, also genau der richtige Mann für so eine Tour. Kurzentschlossen steigt er wieder auf zu Albert, der kraft- und mutlos hängen geblieben ist. Volker sichert ihn mit einem zusätzlichen Seil, das er mitgeführt hat und gemeinsam steigen beide langsam ab.
Erschöpft aber glücklich kommen wir unten an. Dort entdecke ich an meinen Armen und Beinen leichte Lackschäden, vermutlich habe ich den Fels beim Abseilen geschrammt. Es stellt sich später heraus, dass wir den Zandonella-Klettersteig mit höchster Schwierigkeitsstufe geklettert sind.
Ein Blick zurück zeigt uns, dass wir eine etwa 300 Meter hohe, senkrechte Wand in Falllinie durchstiegen haben. Nun müssen wir nur noch ein langes Schotterfeld absteigen, wo wir an einer Abzweigung vorbeikommen, die zur Sentinellascharte führt, die wir eigentlich überschreiten wollten. Dieser Weg hätte uns einige Stunden Zeit und viele Tropfen Schweiß, aber auch eine Menge Abenteuer erspart. Nach fast elf Stunden Wandern und Klettern kommen wir an ein Bächlein, schon in Sichtweite der Bertihütte. Ausgedorrt wie eine hundertjährige Rosine werfe ich mich auf den Bauch und trinke das Rinnsal (fast) leer. Wir waren bis hier ohne Möglichkeit des Wasserholens und hatten jeder nur eine Trinkflasche dabei...
Heute Abend macht Albert keine Abendrunde durch die Berge.
Freitag, 28. August
Am nächsten Morgen ist wieder Bilderbuch-Sommerwetter. Die Tour des Vortages steckt uns noch in den Knochen, und an meinen Füßen haben sich fette Blasen gebildet. Das hindert uns aber nicht am Aufbruch zur neuen Abenteuern. Am Nordrand des Gebirgstockes geht es auf Bergpfaden Auf und Ab, bis wir zum Fuß des Arzalpenkopfes gelangen. Ein gut ausgebauter Tunnel führt ins Innere des Kalkmassives. Neugierig setzen wir unsere Stirnlampen auf und betreten die kalte, feuchte Finsternis des Berginneren. Von der Tunneldecke wachsen bereits winzige Tropfsteine. Wir entdecken ein weitläufiges Tunnelsystem, das sich auf mehrere mit Treppen verbundenen Etagen verzweigt. Dabei gibt es immer wieder Abzweigungen in Seitenkammern, die Fenster und Schießscharten nach draußen haben. Dieses Labyrinth wurde von italienischen Soldaten angelegt, die im ersten Weltkrieg gegen die Österreicher kämpften. Von diesem Berg aus konnten die Soldaten den strategisch wichtigen Kreuzbergpass unter Feuer nehmen. Was für ein sinnloses Opfer an Blut, Schweiß und Tränen in dieser großartigen Landschaft.
Nach kurzer Rast geht es über den idyllischen Gamssteig, der größtenteils im Wald liegt, auf und wieder abwärts, vorbei an Felskanzeln und prächtigen Aussichtspunkten. Am frühen Nachmittag erreichen wir die Talschlusshütte im Fischleintal, wo sich unser Kreis erst einmal schließt. Da unsere Route eine liegende Acht beschreibt, betreten wir nun den zweiten Kreis.
Gewitzt durch die Erfahrung des Vortages stärken wir uns an der Hütte mit Flüssigkeit und steigen wieder auf zur Drei-Zinnen-Hütte. Rolf und ich marschieren gemächlich und lassen die jungen Hirsche voraus springen, wobei sich Albert und Volker einen Wettlauf zur Hütte nicht verkneifen können. Als wir schließlich einen Felsrücken überschreiten, bietet sich uns ein atemberaubender Anblick: Vor uns von der späten Sonne schräg beleuchtet die Drei Zinnen, links davon das zerklüftete Massiv des Paternkofels und direkt vor uns die einladende Drei-Zinnen-Hütte. Die Freunde, die schon länger da sind, stellen Rolf und mir ein Radler hin, das in unseren vom Dolomitenstaub gedörrten Kehlen zischend verschwindet.
Da wir heute „nur“ knapp zehn Stunden bergauf- und bergab gewandert sind, hat sich Albert soweit regeneriert, dass er seine abendliche Laufrunde wieder durchführt, während wir die Abendstimmung genießen. Die Sonne sinkt zum Horizont und taucht die phantastischen Kalkmassive des Hochtales in kitschig rosafarbiges Licht, das langsam verblasst.
Als es dämmert, erhebt sich der Vollmond als leuchtende Scheibe über den gezackten Bergen. Wir stehen auf der Terrasse der Hütte und bestaunen die grandiose Kulisse. An der großen Zinne entdecken wir auf der Nordwand einige winzige Lichtpunkte wie kleine Glühwürmchen. Das müssen Kletterer sein, die nach ihrer schweren Tour im senkrechten Fels biwakieren. Die Nordwand der großen Zinne ist Kult und allein den Sportkletterern vorbehalten. Aber auch von diesen gelingt es nur wenigen, diese Kalkwand an einem Tag zu durchsteigen, so dass ein Wandbiwak notwendig wird. Diese senkrechte und teilweise überhängende 500 Meter-Wand wurde 1933 erstmals von Emilio Comici und den Brüdern Dimar durchklettert und zählt auch heute noch zu den spektakulärsten Klettertouren der Alpen.
Samstag, 29. August
Auch der folgende Morgen begrüßt uns mit strahlendem Sonnenschein. Nach dem Frühstück brechen wir auf zum Paternkofel. An dem aufrecht stehenden versteinerten Frankfurter Würstl geht es vorbei zur mächtigen Felsenburg des Kofels mit seinen hohen Mauern, Türmen und Zinnen.
Und wie das bei einer Burg so üblich ist, wird sie durch eine Toröffnung betreten. Wir legen unsere Helme und Stirnlampen an und steigen in das Innere des Berges. Auf steilen Stufen geht es aufwärts, und immer wieder geben Felsendurchbrüche nach links oder nach rechts den Blick frei in das östliche bzw. westliche Tal. Auch dieses Stollensystem wurde im Ersten Weltkrieg geschaffen, um von exponierter Stellung aus die umliegenden Täler mit Feuer zu bestreichen.
Wir steigen weiter steile Treppen aufwärts und erreichen mehrmals offene, sonnendurchflutete Felsgalerien, nach denen es aber wieder in die kalten Eingeweide des Berges geht. Als wir den letzten Tunnel verlassen, heißt es wieder Karabiner einklinken und aufwärts klettern. Über die ausgesetzte Gamsscharte erreichen wir schließlich den Gipfel des Paternkofels in 2744 Meter Höhe. Eine phantastische Fernsicht bei wolkenlosem Himmel auf nahe und ferne Bergketten erwartet uns. Deutlich sind die schneebedeckten Massive des Großglockners und des Großvenedigers auszumachen. Nach ausgiebiger Gipfelrast unter der ungefilterten Höhensonne steigen wir wieder bis zur Scharte hinunter. Auf dem Abstieg begegnen uns mehrere große Gruppen Jugendlicher und erwachsener Bergwanderer, die bayrisch, tirolerisch oder italienisch palavernd zum Gipfel strömen.
Wir betreten nun den Klettersteig Schartenweg, italienisch Sentiero delle Forcelle. Dieser führt über Felsbänder und eine Holzbrücke über schwindelnde Abgründe von Felsbastion zu Felsbastion. Auch dieser Klettersteig hat seine eigene Charakteristik und ist ein neues, abwechslungsreiches Abenteuer mit traumhaft schönen Aussichten.
Im Vergleich zu den Vortagen ist die heutige Tour eine Genusskletterei, da wir Rasten einlegen und schon nach etwa sieben Stunden unser Ziel, die Zsigmondy-Hütte erreichen.
Auf der Terrasse der Hütte sitzend haben wir die langgezogene sonnenbeschienene Bergflanke des Elferkogels vor den Augen. Hier im oberen Wanddrittel sind wir vor drei Tagen den sagenhaften Alpinisteig geklettert. Und rechts davon ragt das zerklüftete Kalkmassiv des Zwölferkogels in den tiefblauen Himmel.
Da die Hütte wegen des schönen Wetters und Ferienwochenendes überbelegt ist, müssen wir nach dem Abendessen den Gastraum räumen, um anderen Wanderern das Abendessen im Sitzen zu ermöglichen. So genießen wir noch ein wenig die Abendstimmung vor der Hütte.
Sonntag, 30. August
Am nächsten Morgen steigen wir ab ins Fischleintal, wo wir nach drei Stunden Renés Transporter erreichen und feststellen, dass die Autobatterie vollkommen leer ist. Fünf starke Eifler schieben den Wagen an, und das Problem ist behoben.
Auf der Heimfahrt machen wir noch einen Zwischenstopp in Blaubeuren am Rande der Schwäbischen Alb, um unsere hungrigen Mägen zu füllen. Nach dem Abendessen beim Griechen machen wir noch einen Spaziergang zum nahegelegenen Blautopf. Das ist eine unterirdische Quelle, bei der aus großer Tiefe (800 Meter!) eine große Menge hellblauen Wassers quillt und einen kreisrunden kleinen See füllt. Hieraus strömt dann das Flüsschen Blau, das seinem Namen alle Ehre macht, und weiter unten in Ulm in die Donau mündet.
Wir steigen wieder in Renés Wagen und fahren Nonstop nach Hause.
Wir erlebten Abenteuer, Kameradschaft, phantastische Berge und auch unsere persönlichen Grenzen. Ein großes Dankeschön an Volker, der dies abwechslungsreiche Tour geplant und geführt hat.