Ich liege im Gras, höre die Vögel zwitschern, das Blätterrauschen der Bäume über mir und die unaufhörlichen Rupf- und Kaugeräusche unserer entzückenden Gefährtin.
Ich habe mich lange nicht mehr so entspannt gefühlt.
Seit heute sind wir unterwegs. Mit einem Esel – pardon – einer Eselin! Sie heißt Uranie (gesprochen: Ürani) und ist natürlich die schönste, liebste und allerbeste Eseldame der Welt. Gestern nachmittag kamen wir nach entspannter Anfahrt am Eselhof Gentiâne in Castagnols an. Man sollte nicht meinen, dass hier, an so einem versteckten und verwunschenen Ort überhaupt Menschen leben. Michael, der Besitzer des Hofs, beherbergt 63 Esel, das sind mit Sicherheit weitaus mehr, als Menschen hier wohnen.
Bei der Fahrt durch Wälder, Täler und enge Sträßchen haben wir bereits einen Eindruck von dieser schönen Gegend hier bekommen. Es ist grün, hügelig und wild. Die kleinen Dörfchen mit ihren urigen Steinhäusern kleben hier und da an den Hängen.
Auch der Hof in Castagnols besteht aus alten Steingebäuden, einem Wohnhaus, einer Gite d' Etappe – und einer Eselstation. Und hier wartete sie auf uns, unsere Uranie. Nach einer zweieinhalbstündigen Einweisung in die Handhabung des Tierchens kamen bei uns erste Zweifel auf: Können wir uns das alles merken? Schaffen wir das? Was ist, wenn der Esel nicht so will wie wir?
Nach unruhigem Schlaf und leichtem Frühstück wurden wir und Uranie zu unserem Startpunkt nach La Bastide de Puylaurent gebracht. Von hier aus sollte es nun zunächst auf dem GR 70, dem sogenannten Stevenson-Weg, in mehreren Etappen wieder bis zum Eseldorf zurückgehen.
Der schottische Schriftsteller Robert Louis Stevenson wagte vor ziemlich genau 140 Jahren, die Cevennen in 12 Tagen mit einem Esel zu durchwandern. Über diese Reise schrieb Stevenson ein kleines Büchlein, was der Region zu einer touristischen Idee verhalf. Man kann hier in einigen Orten einen Esel „mieten“ und mit diesem wandernd unterwegs sein. Viele Unterkünfte sind darauf eingestellt, bieten eine Wiese, Heu und Wasser an, um den Vierbeiner nachts artgerecht unterzustellen, während die Zweibeiner zufrieden in ihren Bettchen liegen.
Der gesamte Stevenson-Weg wird aber auch von Wanderern ohne Esel gern begangen, bietet er doch sehr unterschiedliche landschaftliche Eindrücke.
Wir werden jedoch zu dritt nur einige zentrale Etappen des GR 70 gehen. Danach wird uns unser Weg wieder zurück zum Eselhof nach Castagnols führen.
Uranie stellte sich als äußerst friedlich, verschmust und nicht allzu bockig heraus. Beim Abmarsch versuchte sie natürlich sofort, ihre Grenzen auszutesten. Aber darauf waren wir ja dank Michael vorbereitet und wussten, was zu tun war: erst mal klar machen, wer hier die Chefs sind – nämlich die Eselführer! Die größte Herausforderung war und blieb, den Esel beim Laufen vom Fressen abzuhalten. Und Esel wollen IMMER nur fressen. Also musste sie mit liebevoller Strenge erfahren, dass Fressen nur in den Pausen erlaubt war.
Auf dieser ersten Etappe begleiteten uns herrliche Weitblicke. Sie war nur 12 km kurz und erlaubte uns, eine wunderbare lange Pause unter Schatten spendenden Bäumen zu machen, bei der Uranie an der langen Leine friedlich grasen durfte.
Unser Ziel – Chasseradès – ist ein kleines Dörfchen, wieder einmal mit alten urigen Steinhäusern. In einem davon übernachteten wir
Was für eine morgendliche Begrüßung: Uranie kommt mir auf ihrer Weide schon entgegengelaufen, wir schmusen ausgiebig und freuen uns beide. Ich kann gar nicht aufhören, ihr lauter Kosenamen ins Ohr zu flüstern, so vernarrt bin ich in unsere Eselin.
Auf unserem Weg heute war sie anfangs ein bisschen störrig. Sie blieb oft stehen, so dass wir zunächst unsicher waren, ob irgendwas nicht stimmt: falsch gesattelt, Hufe nicht richtig ausgekratzt, oder was?
Aber nein, sie musste erst mal wieder ihren Rhythmus finden, im wahrsten Sinne des Wortes in die Hufe kommen.
Der Stevenson-Weg war heute landschaftlich fantastisch. Auch die Wege waren wesentlich schöner als am Tag zuvor. Viel Wald, viel Aussicht, tolle Orte, durch die wir kamen. Alles war sehr abwechslungsreich, und auch der Umstand, dass der GR an einer Stelle umgeleitet worden war und uns zu einem gehörigen Umweg zwang, tat der Schönheit der Etappe keinen Abbruch. Mitten im Wald trafen wir auf drei Franzosen, die gerade picknickten. Kulinarisch bestens ausgerüstet (...Franzosen eben...), boten sie uns freundlicherweise einen Kaffee an, den sie frisch auf einem Campingkocher brühten. Das nahmen wir gerne an und entschieden uns ebenso für unsere Mittagspause.
Gut 17 km gingen wir an diesem Tag. Das sollte die längste Etappe werden. Nun, wer schon einmal mit einem Esel unterwegs war, weiß vielleicht, dass Eselwandern soviel bedeutet wie Entschleunigung. Alles geht langsamer und gemütlicher, das Tempo bestimmt der Esel.
In Le Bleymard erwartete uns ein Hotel und ein grandios leckeres Essen, während Uranie die Nacht auf einer Wiese nebenan zwischen ein paar Hühnern verbrachte und uns am nächsten Morgen schon mit freudigem Iii-Aaa erwartete.
An diesem Tag war die Königsetappe des Stevenson-Wegs geplant: über den Mont Lozère, der mit knapp 1700 m der höchste Punkt der Wanderung war.
Und so ging es auch direkt ziemlich steil den Berg hinauf, zunächst noch mit schönem Blick zurück auf Le Bleymard, dann durch Wald bis zu einer Ski-Station. Diese war nicht gerade einladend, also schnell weiter und auf den Rücken des Mont Lozère. An heidebewachsenen blühenden Hängen vorbei, deren Farben leuchteten. Erste Regenwolken zogen an uns vorüber. Es klarte wieder auf und wir gingen immer aufwärts, an hohen Stein-Stelen vorbei, bis zu einem Sattel unterhalb des Gipfels.
Da es ziemlich windig war, beschlossen wir, dort eine Mittagspause im Schutz eines großen Strauchs zu machen. Wir labten uns am üppigen Lunchpaket und streckten uns anschließend im warmen Gras aus. Bald darauf spürte ich hinter mir an meinem Kopf eine warme weiche Eselschnauze. Ich setzte mich auf und schmuste ausgiebig mit „meinem Mädchen“. Sie ist so lieb und so flauschig. Unglaublich, mit einem Esel kann man schmusen wie mit einer Katze!
Noch unglaublicher ist daher, wie der alte Stevenson (und damals war er noch jung) seine arme Eselin Modestine so dermaßen prügeln konnte, dass ihm abends die Arme davon schmerzten.
Bis zum Gipfel war es dann nicht mehr weit. Nun ja, es war eher ein großes Gipfelplateau. Wir machten ein paar Fotos, mit und ohne Esel. Und wie an den vorangegangen Tagen auch, sprachen uns immer wieder andere Menschen an. Wir waren schon so etwas wie eine Attraktion, obwohl der Anblick von Zweibeinern, die mit einem Esel unterwegs sind, hier eigentlich bekannt sein sollte. Aber die Touristen und Wanderer machten ständig Fotos von uns, gefragt und ungefragt.
Der Weg abwärts bis zum kleinen Weiler Finiels war landschaftlich atemberaubend, mit fantastischen Blicken auf steindurchsetzte Berge. Aber er war für Uranie – und uns – auch eine Herausforderung. Denn der Pfad war eng, steinig, und links und rechts lockte immer das saftige Grün in allen Variationen. So waren wir dann schon ein bisschen froh, unten nochmal auf einen breiteren Weg zu kommen.
Finiels ist winzig und unser Maison Victoire einzigartig. Für die Doppelzimmer existieren keine Zimmerschlüssel, hier sind alle eine große Familie, Gäste und Gastgeber. So fanden wir uns am Abend auch alle gemeinsam an einem langen Esstisch ein. Jeder stellte sich vor und dann wurde mit dem Apéritf angestoßen. Natürlich hausgemacht, genau wie das genial leckere Essen. Hier gab es keinen Schnickschnack: gegessen wurde von einfachem Geschirr, statt Servietten stand eine Rolle Zewa auf dem Tisch. Der Wein floss bis zum Abwinken und die Gänge des Menüs schienen nie enden zu wollen. Holla, das sind wir nicht gewohnt: jeden Abend so viel Essen, immer Wein, vorzüglichen Käse.....das hat mit gemeiner Hüttenkost nicht das geringste zu tun.
Die Stimmung war super. Vor allem mit zwei australischen älteren Ladies und einem jungen Franzosen sowie mit dem Chef Mario hatten wir sehr viel Spaß und einen regen Austausch.
Jeden Morgen das gleiche Ritual: Uranie kommt uns auf ihrer Weide mit freudigem Iii-Aaa entgegengelaufen. Begrüßung, Kuscheln, Küsschen. Dann die Fellpflege – bürsten mit Manfred, und die Hufpflege – auskratzen mit Claudia. Satteln – alles okay? Dann kann es losgehen. Wir sind jetzt ein eingespieltes Team.
Von Finiels aus war der Weg abwärts in den Ort Le Pont de Montvert „très formidable“. Welche Aussichten nach allen Seiten! Wer hat all diese riesigen Steine auf die Hügel und Wiesen geworfen? Es ging teilweise sehr steil und steinig abwärts, doch Uranie hat das gut hinbekommen. Wir auch. Weiter unten hatten wir dann einen tollen Blick auf Le Pont de Montvert. Als wir dort ankamen, war es so schön, dass wir in einem Café noch etwas getrunken haben – mit unseren netten australischen Ladies und Bruno, dem jungen Franzosen, denn hier trafen wir uns wieder. Uranie stand derweil an einen Baum gebunden auf der anderen Straßenseite und spielte wieder Fotomodell.
Nach einer herzlichen Verabschiedung dauerte es ein bisschen, ehe wir den richtigen Weg fanden. Denn jetzt ging es nicht mehr dem gut ausgeschilderten GR 70 entlang und wir mussten uns auf die Wanderkarte und die mitgelieferte Wegbeschreibung konzentrieren. Wir passierten winzige Weiler, die aus einer anderen Zeit schienen. Stille um uns herum. Irgendwann kamen wir dann in Le Poncet an. Hier hatten wir ein kleines Häuschen für uns, mit Terrasse und bester Aussicht. Aber es war in einer Feriensiedlung und somit etwas unpersönlicher als die bisherigen Unterkünfte. Aber auch hier war das Abendessen so üppig und reichhaltig, dass ich es schwierig fand, in den Schlaf zu finden.
Die Riesenheuschrecke, die gegen Morgen auf meiner Seite der Matratze saß, sorgte dafür, dass ich auch wieder früh wach war. Die Aussicht aus dem Fenster gab den Blick auf nebelumwobene Berge frei, ein tolles Fotomotiv. Und beim Hinauslehnen aus dem Fenster wurden wir natürlich sofort von unserer Eselin entdeckt. Iii-Aaa!!! Sie ist so ein süßes Ding!
Heute hatten wir in unserem Lunchpaket unter anderem zwei Flaschen Bier. Die spinnen, die Gallier!!!
Da Uranie so brav lief und die Strecke so einfach war, machten wir bereits um 11 Uhr eine längere Pause und genossen unser Frühschoppen-Bier mit Käse und Chips. Dann noch ein Stückchen Tarte au chocolat...hmmm... die meinen es hier wirklich gut mit uns.
Der Weg ging viel durch schönen Wald und dann wieder steil hinunter durch einen Ort. Heute ging es heimwärts, zumindest für unsere Eselin. Allein der Gedanke an den Abschied machte mich wehmütig. Deshalb wurde sie auf den letzten Kilometern noch ein bisschen verwöhnt: mit extra vielem Anhalten (zum Fressen), Möhrchen, Äpfeln und Keksen. Aber es war auch ein Hinauszögern der Tatsache, dass wir unser Eselchen bald wieder abgeben mussten. Und nicht nur mir war die Kleine so sehr ans Herz gewachsen, auch Manfred hatte jeden Tag noch ein paar Koseworte mehr für sie.
Deshalb war es für uns beide ein schwerer Abschied, und ich glaube, auch Uranie war traurig über unsere Trennung.
Den letzten Tag unserer gemeinsamen Reise verbrachten wir in der nahe gelegenen Tarn-Schlucht. Wir unternahmen eine Kajakfahrt auf dem Fluss, der teilweise so wenig Wasser hatte, dass wir aussteigen und schubsen mussten, am Ende der Strecke aber so tief war, dass wir sogar darin schwimmen konnten. Wir schauten uns St. Enimie an, eines der schönsten Städtchen Frankreichs, und liefen durch die engen mittelalterlichen Gassen.
Ich habe während dieser Tage einige neue Erfahrungen gemacht: