Datum: 20. 10 2021
Autor: Philipp Wittman
Wer als Bergfreundin oder Bergfreund nur ein-, zweimal im Jahr den Weg aus dem wirklich tiefen Westen der Republik in die Alpen findet, fiebert diesen Reisen umso mehr entgegen. Dumm nur, wenn Pandemien und Reisebeschränkungen dazwischenkommen und die Unternehmungen infrage stellen. So standen die Vorzeichen für unseren Fortgeschrittenenkurs für Mehrseillängentouren im Tannheimer Tal keineswegs gut. Bis in den Mai hinein gab es wenig Anlass zu Hoffnung, Vorfreude konnte sich kaum einstellen. Und als dann die Reisebestimmungen unseren Aufbruch zuließen, trübten sich die Wetteraussichten ein. Umso größere Glückskinder sind wir, da wir nicht nur nach Tirol reisen, sondern auch tatsächlich klettern konnten.
Kay, Patrick und Philipp waren im Jahr 2020 als mittelalte Kletterrookies an den hohen Felswänden des Wilden Kaiser abgeprallt. Im Angesicht der Fleischbank und des Totenkirchl wurden aus Bergnamen Prophezeiungen, deren Erfüllung wir nicht erleben wollten. So wechselten wir in die örtlichen Klettergärten und fassten den Vorsatz, es im Jahr 2021 eine Nummer weniger wild zu probieren. Also meldeten wir uns bei Rolf und setzten uns auf die Teilnehmerliste für den Mehrseillängenkurs im Tannheimer Tal an Gimpel und Co. Zu uns gesellte sich Ute, die sich auf die Ausbildung zur Trainerin C Bergsteigen vorbereitet und ihr Wissen und Können vertiefen wollte.
Ute reiste von einem Ausbildungskurs im Wilden Kaiser (!) aus an, so dass wir ihr in Fragen des Kletterns und Sicherns, Abseilens und Ablassens unmittelbar Vertrauen schenkten. Durch Ute und Rolf mit Trainerredundanz gesichert, machten wir uns auf den Weg. Es wurden unvergesslich schöne, infektionsfreie und ausreichend wetterstabile Tage.
Von den vier geplanten Touren konnten wir drei trockenen Fußes realisieren: den Hüttengrad am Hochwiesler (fünf Seillängen, 4+, meist 3 und 4), die Gimpel Südostwand (acht Seillängen, 3+) und die Sportkletterroute Till Ann mit acht kürzeren Seillängen (überwiegend 3 und 4, eine Stelle 5-) und einer langen Abseilpiste. Einzig den Westgrat der Köllenspitze mussten wir von unserer Liste streichen, da zu viel Schnee in der Abstiegsroute lag.
Stattdessen fügten wir an jenem zweiten Tag unseres Aufenthaltes eine Kraxelstunde im hütteneigenen Boulderraum ein sowie eine Theorieeinheit samt Trockenübung zum Schleifknoten und zur Partnerrettung. Als es sich dann aufhellte, gingen wir wandern, nicht klettern: die einen zur Schneetalalpe, die anderen zur Nesselwängler Scharte mit Schnee- und Gamsberührung. Die Berührungen mit anderen Wanderern blieben hingegen spärlich, da das Wetter im Verbund mit der Pandemie manchen Bergsteiger abzuhalten schien.
Doch nun zum Klettern. Wir stiegen jeweils in einer Dreier- und Zweierseilschaft und konnten das in heimischer Halle und am Eifeler Fels Gelernte anwenden: Vorstieg, Nachstieg, Sichern und Nachsichern, auch – bei steter Gefahr, Steinschlag auszulösen – das saubere Setzen der Füße und das Klettern am langen Arm. Die steten Hinweise unserer Trainer und Teamer aus der Sektion Eifel hatten sich in unseren Köpfen festgesetzt und konnten abgerufen werden. Wichtig war auch die Fitness, die wir zu Hause aufgebaut hatten: Ausdauersport, Gymnastik, usw.
Am Hüttengrad kamen Kay und Patrick aus dem Grinsen gar nicht mehr raus, zu schön war das Steigen im Wechselvorstieg. In der Dreierseilschaft stieg Ute souverän vor. Philipp, mit der überschaubarsten Felserfahrung, folgte in der Mitte, Rolf war der zweite Nachsteiger.
Die Südostwand des Gimpel lockte mit etwas weiteren Hakenabständen (E 2-3) und längeren Seillängen (40 bis 45 m). Nachdem einige von uns bereits die erste Seillänge absolviert hatten, ging es noch einmal zurück zum Einstieg. Denn es galt einem letzten Schauer den Vortritt zu lassen, bevor Sonne und Wind das Trocknen von Kalk und Gras übernahmen. Schließlich konnte es losgehen: Philipp und Rolf bildeten nun die Zweierseilschaft, Patrick stieg in der Dreierseilschaft vor. Da auch die Abstiegsrouten durchaus anspruchsvoll waren, dauerten die Touren am Gimpel und der Till Ann elf bzw. zehn Stunden, waren also auch konditionell durchaus herausfordernd.
An der Till Ann, laut Kletterführer ein „Neoklassiker“, wiederholte sich das Spiel: Schauer, Sonne und Wind, vortasten – und los ging es. Das Schöne, ja Beglückende war das Klettern in acht Seillängen an einer Wand, die uns technisch nicht überforderte. Zwar kamen uns Stellen von 4+ oder 5- im alpinen Umfeld knackig vor. Aber die Teufelsley oder die Hustley sind super Übungsfelsen. Und wer dort eine 6 oder 7 klettert, ist für eine 5- in der Till Ann gut gewappnet. So konnten wir bewusst steigen und durchgängig aufmerksam für die Seilschaft bleiben. Interessant war auch, die eigene Improvisationskunst zu erleben. Patrick überstieg einen Standplatz, konnte aber am nächsten Haken einen eigenen einrichten, der von den Nachsteigern als vorbildlich eingeschätzt wurde. Das Lob der Trainer*in war ihm sicher.
Nach der Rückkehr auf die Hütte waren die Abende ausreichend lang, um je eigene und gemeinsame Bilanzen zu ziehen. Jede und jeder von uns hat ganz eigene, individuelle Erfahrungen gemacht. Wir alle, Ute wie wir Männer, hatten jeweils unsere eigenen Themen mit an den Felsen gebracht. So beschäftigt sich der Autor dieser Zeilen seit er denken kann mit seinem Höhenschwindel, der in diesem Jahr kaum mehr wie ein ungebetener Gast auftauchte, sondern irgendwo zwischen Eifel und Gimpel auf der Strecke geblieben war. Das Klettern in der Halle, an heimischen Felsen, das Steigen auf Leitern oder das (meterweise) Laufen auf der Slackline – all dies wird unterjährig zur Übung gegen den Höhenschwindel. Dies vielleicht als Mutmacher für alle jene, die an einem ähnlichen Leiden zu tragen haben, wenn es in die Höhe geht.
Noch eine persönliche Erfahrung sei hier geteilt: Das Steigen im und am Berg wurde mehr und mehr zu einem Steigen mit dem Berg: mit dem Felsen, mit dem Schneefeld bei Zu- und Abstieg, mit dem Steilhang etc. Vielleicht ist dies eine Haltung, die das bewusste Bergsteigen erschließt: das Gelände als Gefährten zu verstehen und als kleiner Mensch in großer Höhe sich in diese Verbundenheit mit den Gegebenheiten vor Ort zu begeben.
Wem das zu kryptisch klingt, dem sei die Teilnahme an dem Kurs schlicht empfohlen, ja ans Herz gelegt. Bei aller Individualität der Teilnehmenden war es ein herausragendes Erlebnis unserer Gruppe aus der Sektion Eifel. Herausragend vor allem aufgrund der gründlichen Vorbereitung und souveränen Durchführung durch Rolf: klar in den Ansagen, ruhig in kniffeligen Situationen und geduldig bei gutgemeinten Ratschlägen unsererseits. Es waren unvergessliche Tage. Der große Dank an Rolf, ebenso an Ute, entspricht der großen Freude über dieses gemeinsame Erlebnis.
Ein herzlicher Dank geht auch an die anderen Kletterbetreuer*innen unserer Sektion, die uns in den vergangenen Jahren Klettertechniken vermittelt haben. Ohne die gemeinsamen Stunden in der Mimi Reno-Halle, an der Teufelsley oder am Gerolsteiner Fels wären wir nicht bis in die Tannheimer Berge gekommen.
Und wohin geht es im nächsten Jahr? In den Wilden Kaiser! Vielleicht.