Da unsere Sektion eine Tourenwoche im Engadin anbietet, verabreden Christoph Künstler und ich uns für sechs Uhr morgens vor den Toren Euskirchens, um gemeinsam Richtung Schweiz zu fahren. Früh parat beschließe ich, mein gesamtes Gepäck als Wegweiser für Christoph vor die Tür zu stellen und gehe nochmals ins Haus.Um 05:55 schaue ich irritiert durch orangefarbenes Blinklicht aus dem Fenster und wundere mich über den Krach in morgendlicher Ruhe. Zu meinem Entsetzen steht da die städtische Sperrmüll-Abfuhr die bereits die Hälfte meiner Ausrüstung in den Vorhof zur Hölle (Presse) geladen hat. Voll motiviert die Jungs! ZurRettung meiner Habseeligkeiten heißt es irgendwas von „dunkel, verwechselt und Glück gehabt“. Super Tach bis hierhin! Nach einem versöhnlichen Abschied von den Männern in orange bin ich zumindest hellwach und warte neben meinem Zeug bis Christoph wenige Minuten später um die Ecke biegt. Es kann losgehen. Vor Ort angekommen ist Christoph weiter nach Samedan gefahren, um die anderen Sektions-Teilnehmer zu treffen. Ich mache mich mit meinen Bekannten Gregor und Stef daran, mögliche Tourenziele ausfindig zu machen. Von der Terrasse haben wir einen guten Blick vom Corvatsch im Süden bis zur Muottas Muragl im Nordosten. Genau vis a vis steht die Westwand des Piz Surlej. Bereits vom Julierpass erkennt man eine mächtige Fels-Pyramide, die sich unterhalb seines Gipfels dem Berg vorlagert. Die linke und damit nördliche Seite dieser Pyramide bildet eine markante, ca. 400m lange Rinne, die uns schon vor mehreren Jahren ins Auge gefallen ist. Da es viel Schnee braucht, damit diese Rinne für uns fahrbar ist, bot sich bisher nie die Gelegenheit dazu. Dieses Jahr allerdings, da in Maloja, ein paar Kilometer weiter Richtung Italien, Rekordschneehöhen gemessen werden und auch am Corvatsch so viel Schnee gefallen ist, wie lange nicht mehr, sollte es klappen. Aber der Reihe nach.
Roccabella
Um uns einzufahren beschließen wir, den Piz Surlej in der Wochenmitte anzugehen und zunächst auf den Roccabella am Julierpass zu steigen.
So machen wir uns am nächsten Morgen bereits um sieben Uhr auf Richtung Bivio. Vom Parkplatz aus werfen wir einen Blick auf die nordseitige Abfahrt des Roccabella und sehen bei der derzeitigen mäßigen Lawinengefahr gute Chancen, diese Seite ohne Zwischenfälle befahren zu können. Mit dem Lift geht’s in das kleine Skigebiet von Bivio und von dort hinunter zum eigentlichen Ausgangspunkt der Tour. Während Stef und Gregor anfellen, befestige ich als einziger Snowboarder ebenjenes am Rucksack und steige in meine Kurzski die mich die knapp 1000 Höhenmeter auf den Gipfel tragen werden. So ausgestattet schleppe ich gute 6 Kilo zusätzlich den Berg hinauf. Hilft aber nichts. Circa 2 Stunden geht es gemächlich bergan, ehe uns ein letzter steilerer Aufschwung auf den Gipfel bringt.
Nach ausgiebiger Gipfelrast nebst Foto wagen wir gemeinsam mit Edda die Nordabfahrt Richtung Passstraße. Nachdem eine kleine Wechte überwunden ist, fahren wir einzeln in den steilen Hang ein und erleben beinahe unverspurten Pulverschnee; immerhin 10 Tage nach dem letzten Schneefall.
Im weiteren Verlauf führt uns die Route immer linkshaltend Richtung Bivio, wo wir Tour bei strahlendem Sonnenschein und Gerstensuppe ausklingen lassen.
Gemsfreiheit
Für den nächsten Tag entscheiden wir uns für die Gemsfreiheit und nehmen die erste Gondel auf die Diavolezza. Nach einer kurzen Abfahrt auf den Pers-Gletscher stehen wir vor dem imposanten Gipfelaufbau des Piz Palü und machen uns an den verhältnismäßig kurzen Aufstieg Richtung Rifugi dals Chamoutschs. Abgesehen von einer kurzen vereisten Passage im oberen Drittel kommen wir gut voran und erreichen unser heutiges Tagesziel ganz nach Zeitplan.
Da es hier die letzten Tage ordentlich geblasen hat, werden die ersten 500 Abfahrtsmeter auf dem Fortezza-Gletscher Richtung Morteratschtal zur technischen Herausforderung. Mal trägt der windgepresste Deckel, mal graben sich die Ski unter die Oberfläche und man hat alle Hände voll zu tun, nicht wie der letzte Depp auszusehen. Weiter unten wird’s dann besser, sodass wir auch bei dieser Tour ausreichend Pulver unter die Bretter bekommen. Am Ende des Tals angekommen machen wir es uns an der Bahnstation Morteratsch mit dem dazugehörigen Gasthaus gemütlich. Nach einem hervorragenden Salat mit gefühlten 2 Pfund Putenfleisch bringt uns die Rhätische Bahn wieder zurück zur Talstation der Diavolezza. Den folgenden Ruhetag verbringen wir teils im Schwimmbad von Pontresina, teils nichts tuend auf dem Sonnendeck vor unserem Haus. Das abendliche Käsefondue ist wie immer traumhaft und beschert uns allen den Schlaf der Gerechten.
Piz Surlej
Noch vor dem Frühstück fahren wir mit dem Auto ein Stück Richtung St. Moritz um uns die Pyramide mit der dazugehörigen Rinne, über die wir abfahren wollen, einzuprägen. Laut Kamerazoom gibt es nur eine Engstelle an der wir uns links halten müssen, um nicht vor einer Steilstufe die Rega rufen zu müssen. Nach hektischem Frühstück erreichen wir- wie immer- „just in time“ den Skibus zum Corvatsch und nutzen die zehnminütige Fahrt, um uns fertig anzuziehen. Weitere 30 Minuten später stehen wir auf der Bergstation mit 3300 Meter und genießen das hochalpine Panorama mit Piz Bernina, Piz Morteratsch und Piz Roseg über dem gleichnamigen Tal.Die ersten Abfahrtsmeter bringt uns die Skipiste hinunter zur Fuorcla Surlej. Hier fellen wir an und traversieren unterhalb der Munt Arlas-Westwand bis zum Abzweig auf die Crasta d´Arlas. Wir entscheiden uns für die steilere Aufstiegsvariante und gönnen uns ein Spitzkehren-Training vom Feinsten. Nach einer halben Stunde im sonnenverwöhnten Steilhang erreichen wir den Fuß des Gipfelhangs, der uns mäßig steil auf den höchsten Punkt des Piz Surlej führt. Nach einer kurzen Verschnaufpause kommt das Adrenalin langsam in Wallung, da die bevorstehende Abfahrt den steilsten und aufregendsten Teil der Woche darstellt. Die beiden Spuren die wir heute Morgen in der nördlich exponierten Rinne gesehen haben, lassen uns hoffen. Da der Einstieg nicht einsehbar ist, schauen wir uns nochmals die Karte an, wonach der Einstieg gute 150 Höhenmeter weiter unten sein muss. Unser Höhenmesser erweist sich als zuverlässiges Hilfsmittel und so stehen wir drei vor dem > 45° steilen Einstieg, den Gregor mit den Worten „So was krasses bin ich noch nicht gefahren“ kommentiert. Meine Stimmungslage erschließt sich am besten durch einen Blick auf das Foto, dass Stef von mir schießt, kurz bevor Gregor als erster losfährt. Der Kerl hat`s einfach drauf. Als voll ausgebildeter Slowenischer Skilehrer ist er ebenfalls im Besitz des Schweizer Skilehrerpatents; und das sieht man! Bereits nach seinen ersten Turns ist klar, dass wir es hier nicht mit windgepresster Auflage zu tun haben, sondern uns in den nächsten Minuten auf besten Pulver freuen dürfen. Das beruhigt. Als Gregor links hinter einem Felsvorsprung verschwindet und dort wie besprochen wartet, bin ich an der Reihe. Nach den ersten zaghaften Schwüngen ist die Nervosität verschwunden und eine gespannte Vorfreude auf das was da noch kommt, macht sich breit. Als ich die Engstelle an besagtem Felsvorsprung erreiche, sehe ich Gregor an sicherer Position warten und fahre zu ihm. Wir drehen uns um und sehen Stef bei ihren ersten Metern zu. Nachdem sie zu uns stößt besprechen wir kurz die weiteren Haltepunkte und genießen den Ausblick. Nun fahre ich als erster in den flacher werdenden Verlauf der Rinne. Snowboard-Genuss pur. Nach ca. 100 Metern halte ich rechter Hand an und gebe Stef das Zeichen zum Losfahren. Nun ist auch Zeit für Fotos. Nachdem wir wieder zu dritt sind, nehmen wir die letzten 100 Meter und den folgenden großräumigen Auslauf der Rinne unter die Bretter. Wahnsinn.
Über kupiertes Gelände erreichen wir die offizielle Hahnensee-Abfahrt die uns direkt zum alt-ehrwürdigen Hotel Kempinski bringt, wo gerade die Vorbereitungen zum Engadin-Skimarathon in vollem Gange sind.Auf der kurzen Busfahrt nach Champfer haben wir nochmals beste Sicht auf unsere Abfahrt, die mein persönlicher Höhepunkt für diesen Winter bleiben wird.
Furtschellas Couloir
Da die Woche ihre Spuren in unserer Muskulatur hinterlassen hat beschließen wir, am nächsten Tag das große West-Couloir vom Corvatsch-Gipfel abzufahren. Gut eine Stunde Aufstieg für ca. 1500 Abfahrthöhenmeter ins Val Fex klinge verlockend. Mit einem etwas späteren Aufbruch erhoffen wir uns bessere Bedingungen im Couloir, dass aufgrund der Exposition in dieser Jahreszeit morgens in der Regel knüppelhart gefroren ist, und erst im Tagesverlauf durch die Sonneneinstrahlung etwas aufweicht. Von der Corvatsch-Bergstation geht es in einer knappen Stunde unschwierig auf den eigentlichen Corvatsch-Gipfel auf 3451 Metern.Diesmal begleitet uns Manuel, ein Snowboardlehrer und Landsmann von Gregor. Nach gemütlicher Gipfelpause machen wir uns um die Mittagszeit an die Abfahrt die wenige Meter unterhalb des Gipfels beginnt. Das Foto zeigt Stef an der Schlüsselstelle direkt am Einstieg. Der Schnee ist hier zwar noch gut, allerdings haben wir auf den ersten 50 Metern Traverse eine absolute „No Fall Area“ vor uns. Ein Sturz würde nach reichlich Felskontakt gute 50 Meter weiter unten enden. Nach der Traverse befindet man sich am Beginn des ca. 700 Meter langen und hindernisfreien Couloirs. Wie sich herausstellt, eignet sich diese Abfahrt heute eher zum Schlittschuhlaufen denn zum Skifahren; wobei unsere Mitstreiter immerhin zwei, und damit eine Kante mehr im Einsatz haben als Manuel und ich. Wir machen das Beste draus und können das gesamte Couloir bis auf eine kurze Fotostrecke gleichzeitig abfahren. Da es noch früh ist, beschließen wir gegen halb eins die Tour nicht mit einem kurzen Aufstieg ins Furtschellas-Skigebiet und damit durch die Hintertür zu verlassen, sondern wie geplant ins Val Fex abzufahren. Von unserer Tourenplanung am Vorabend wussten wir zwar, dass die Orientierung auf dem folgenden Teil nicht leicht, und der richtige Felsdurchschlupf zum Talboden nicht einfach zu finden sein würde; was allerdings in den nächsten drei Stunden passierte wäre ein klassischer Fall für Pit Schubert und seine Sicherheitsforschung gewesen. Zum Glück mit gutem Ausgang. Auf dem Weg ins Tal nehmen wir einen halbstündigen Umweg in Kauf und erhalten dafür eine zusätzliche unverspurte Tiefschneeabfahrt. Am Ende dieser Abfahrt schauen wir auf die Karte, sind uns bezüglich der eingezeichneten Abfahrtslinie nicht sicher und entscheiden uns letztlich, zwei frischen Spuren hinunter in den sonnigen Westhang zu folgen. Das Gelände ist kupiert, und als wir auf einer kleinen Terrasse auskommen ist das darunterliegende Gelände und damit der Weg zum rettenden Talboden nicht komplett einsehbar. Besagte Terrasse zieht sich über ca. 3 Kilometer den kompletten Hang entlang und die beiden Spuren verschwinden an einem Felsabbruch den unsere Gemüter für diesen Tag nicht auf der Rechnung hatten. Keine Ahnung wie die beiden unten angekommen sind, aber für uns ist das zu heikel. Daher traversieren wir zu Fuß knapp 20 Minuten Richtung Talausgang und sehen auf der Karte, dass die Felsen in der näheren Umgebung 10-30 Meter hoch sind. Selbst an der günstigsten Stelle müssten wir in unbekanntem Fels abklettern, weshalb wir entscheiden, wieder zurück zu gehen um weiter nach einem fahrbaren Durchschlupf zu suchen. Am Ende dieser Suchaktion sind wir bereits 1,5 Stunden in diesem sonnigen und immer weicher werdenden Hang und stehen wieder an der gleichen Stelle. Noch hören wir zwar keine Lawinen im Tal, würden uns aber nicht darüber wundern. Es ist immerhin zwei Uhr am Nachmittag.
Es hilft also nichts und so entscheiden wir uns, unser gesamtes Material 15 Meter den Hang runter zuschmeißen und einzeln hinterher zu klettern. Die ersten 5 Meter bildet eine steile matschige Grasfläche die denjenigen der ausrutscht, über eine 10 Meter Felsstufe in den freien Fall befördern würde. Gregor versucht sein Glück als erster, steht bald vor der Felsstufe und beginnt, diese ab zu klettern. Wir können ihn dabei nicht beobachten, da eine Felsnase die Sicht versperrt, und so sind wir heilfroh, als er nach 15 Minuten wohlbehalten am Fuß der Felsstufe auftaucht. Die Erleichterung ist groß, da wir nun wissen, dass es machbar ist. Nun bin ich an der Reihe und komme mir mit meinen Softboots auf dem Grasstück vor, wie auf einer Wasserrutsche. Dafür machen die Dinger bei der folgenden Felspassage im vierten Schwierigkeitsgrad eine gute Figur, sodass ich mithilfe von Gregor der von unten dirigiert, auch bald am lawinensicheren Wandfuß ankomme. Während sich Stef auf den Bergabweg macht, hört man die ersten Nassschneelawinen im Tal, was nicht gerade zur Beruhigung beiträgt. Als auch sie unten ankommt, steht Manuel bereits seit über einer Stunde an der gleichen Stelle und kann nur abwarten bis auch er sein Brett über Bord werfen und hinterher klettern kann. Nach annähernd drei Stunden in diesem unübersichtlichen Sonnenhang kommen wir auf der Fex-Straße und damit im Talgrund an, heilfroh, dass es nochmal glimpflich ausgegangen ist. Von hier sehen wir, dass es 50 Meter weiter links einen fahrbaren Durchschlupf gegeben hätte. Physisch und vor allem nervlich auf Halbmast steuern wir den ersten Gasthof an und füllen reichlich Flüssigkeit nach. Noch im Skibus nach Champfer reservieren wir für den Abend einen Tisch im Laudinella, einer hervorragenden Pizzeria in St. Moritz Bad.
Il Chapütschin
Zum Abschluss der Woche wollen wir über das Rosegtal zur Coaz-Hütte um am nächsten Tag auf den Il Chapütschin zu gehen. Während Gregor und ich von der Fuorcla Surlej unterhalb des Corvatsch direkt ins Rosegtal abfahren, müssen Stef und Jan, der heute mit dabei ist, nochmal zurück nach Champfer. Felle vergessen. Die beiden werden später vom Skigebiet Corvatsch direkt zur Coaz-Hütte am Ende des Rosegtals hinüber queren. Unsere Abfahrt bringt uns über leicht geschwungene Altschneehänge bis zum Hotel Roseg-Gletscher, von wo aus wir der Loipe bis zum Gletschersee folgen. Der nun folgende Osthang ist um 1 Uhr Nachmittag bereits dermaßen aufgeweicht, dass sogar Gregor mit seinen mehr als breiten Freeride-Latten regelmäßig wegrutscht. Mit meinen Kurzski fühle ich mich hingegen wie mit Stöckelschuhen im Wüstensand. Alle 5 Schritte sacke ich teils bis zu den Knien ein und bin nach einer Stunde deutlich angeschlagen. Als wir eine weitere Stunde später die Coaz-Hütte erreichen, haben Stef und Jan bereits ihr zweites Heißgetränk intus. Die Hütte liegt wunderschön über dem Rosegtal und bietet zahlreiche Gipfelmöglichkeiten. Nachdem wir unser Lager zugewiesen bekommen, machen wir es uns im gut besuchten Gastraum gemütlich, und gönnen uns den besten Schokoladenkuchen, den ich je über 2500 Meter gegessen habe. Als wir uns mit Uno die Zeit bis zum Abendessen vertreiben, setzt sich ein Pärchen in den Fünfzigern zu uns und bekommt ebenfalls ein paar Spielkarten. Dies ist der Auftakt zu einem mehr als amüsanten Hüttenabend mit gutem Essen in geselliger Runde. Dieses Kontrastprogramm zum Nervenkitzel der vergangenen Woche kommt uns wie gelegen. Irgendwann ist aber auch dieser Abend vorbei und dank einer Hand voll Oropax finden wir alle erholsamen Schlaf. Als wir bei einem kurzen Zwischenstopp alle wieder in Champfer am Küchentisch sitzen sind wir uns einig, eine tolle und abwechslungsreiche Woche verbracht zu haben. Wir sind uns allerdings auch klar darüber, einige Stutz Lehrgeld gezahlt zu haben und hoffen, dass selbiges für die nächsten Jahre gut angelegt ist.