Datum: 30. 11 2000
Autor: Karl Zöll
Wer nach diesem obskuren Titel noch Lust hat, weiter zu lesen, dem möchte ich gerne einige philosophisch-psychologische Gedankengänge näher zu bringen versuchen, die mir im Laufe der Jahre im Zusammenhang mit meiner Tätigkeit in den Bergen durch den Kopf gegangen sind.
Eine Millionenfrage: Welche dieser drei Sentenzen geht auf den guten, alten Sokrates zurück?
Natürlich Formulierung B! Nicht A, wie man immer wieder hört und auch ich lange Zeit gemeint habe. Aber nach klarer Überlegung leuchtet ein: Hätte Sokrates nichts und nicht nicht gesagt, hätte er sich als Banause geoutet und wir wüßten heute nichts von ihm. Wie doch das Weglassen eines einzigen Buchstabens aus einem trivialen Satz eine Aussage größter Tragweite macht!
Diese Erkenntnis zwingt den Denker Sokrates geradezu zum Handeln, veranlasst ihn, etwas in den Köpfen der Menschen in Bewegung zusetzen, nämlich nach Wahrheit zu suchen und sie für sich selbst, für die Mitmenschen, ja für die gesamte Menschheit zu finden. So stellt er das Selbstverständnis seiner ach so sehr von sich eingenommenen Mitbürger in Athen in Frage, hält ihnen einen Spiegel vor, führt sie vom Zweifel über das Nachdenken zur Erkenntnis.
Das führt bekanntlich so weit, dass er die politische Führung seines Stadtstaates derart verunsichert und erschüttert, dass man ihn zum Tode durch den Schierlingsbecher verurteilt.
Aber damit niemand Sokrates nur als trockenen Denker, als abstrakten Analytiker sieht, und bevor wir zur Gegenwart kommen, ein kleines Schmunzeln zwischendurch eine Anekdoten die seine philosophische Gelassenheit, seine Heiterkeit, sein über den "Alltäglichkeiten Stehen", seinen Humor belegt:
Wieder einmal sucht er auf dem Markt seine lieben Mitbürger mit seinem hinterfragenden Wesen heim; im guten Sinne des Wortes. Da tritt aufgeregt ein guter Bekannter hinzu: "Sokrates, während du hier seelenruhig auf die Leute einredest, liegt zu Hause dein bester Freund mit deiner Xanthippe im Bett."
"Ach der Ärmste, ich kann ihn nur bedauern."
Soweit die Antwort des Sokrates.
Wie aber kommt man von einem barfüßigen Philiosophen der Antike auf die Bergsteigerei, besser auf Gedanken, die durch das Bergsteigen ausgelöst werden können. Dazu treiben wir die Buchstaben- bzw. Wortspielerei aus der Überschrift noch ein wenig weiter. Nur ein Wort aus dem Zitat des Sokrates umgestellt ergibt: Ich weiß nicht, dass ich weiß.
Also alles nicht oder nichts? Mitnichten!
Die großartig-schlichte, prägnante Formulierung des Sokrates diente mir einfach als Vorbild, einen Sinnzusammenhang, der mir im Laufe meiner alpinen Unternehmungen immer wieder bewußt wurde, zum Ausdruck zu bringen.
Dass Bergsteigen nicht nur rein sportliche Betätigung leistungsorientierter, nach Anerkennung strebender Ehrgeizlinge ist, dürfte eigentlich jedem von uns klar sein. Ja, ich möchte sogar die Ansicht vertreten, dass die Bergsteigerei in vielerlei Hinsicht eine Sonderstellung unter allen Sportarten einnimmt.
Heute möchte ich nun einen gewissen psychologischen Aspekt ins Spiel bringen, der mir vor allem auch aus persönlicher Erfahrung sehr bedeutsam erscheint.
Also: Ich weiß nicht, dass ich weiß!
Drei Erlebnisse in den Bergen sollen dieses Wort mit Leben erfüllen.
Bei einbrechender Nacht steigen wir vom Nadelhorn Richtung Windjoch ab. Mit Jürgen, einem Neuling im steilen Firn und Eis, habe ich soeben die Lenzspitze Nord-Ostwand und den anschließenden Nadelgrat bis zum Nadelhorn hinter mir. Die Zeit drängt. Weiter ohne Steigeisen! Durst und Müdigkeit treiben zur Hütte. Kurz unterm Gipfel passiert es: Ein Ausgleiten, ein Abheben in den Abgrund!Aber mit der rechten Hand hänge ich an einem spitzen Stein, der als einziger weit und breit aus einer Eisplatte hervorragt. War wohl auf dieser Eisplatte ausgerutscht. Gut, dass der Stein noch da war. Sinnenmäßig habe ich diesen Stein erst erfasst, nachdem alles vorbei war. Keine Reaktion, kein Schreck, nicht einmal Erstaunen. Weiter!
In diesen Sekundenbruchteilen habe ich ganz tief in den Fundus des im Unterbewußten angesammelten Wissens gegriffen. Das aber ist mir erst viel später aufgegangen. Wie ich dann ins Bett geraten bin, weiß ich auch nicht. Das hatte aber bestimmt nichts mit einer instinktiven Handlung zu tun, sondern mehr mit der Tatsache, dass wir unseren übermäßigen Durst mit einer ebensolchen Menge Bier gelöscht hatten. So geht auch der Wettersturz in der Nacht unbemerkt vonstatten.
Einige Jahre später:
Diesmal in der direkten Weißmies Nord-Westwand, die übrigens als Eiswand nicht mehr existiert. Wieder mit einem Neuling in diesem Gelände, mit Wolfgang. Sein Vorteil mir gegenüber waren nur seine modernen Eisgeräte und seine besseren Steigeisen. Nach ein paar Minuten Übung mit denselben war die Wand, 1971 von Vanis und Partner erstbegangen und nach seinem Urteil schön aber nicht ungefährlich, beschlossene Sache. Auf ein Seil wurde einvernehmlich verzichtet. Im Augenblick stehen wir unter dem abschließenden Seracwulst, genauer gesagt in eine Nische, von beiden Seiten und von vorne von haushohen Firnabbrüchen offenbar eingeschlossen. Sind wir in eine Falle getappt? Bleibt uns nur der heikle Rückzug? Vor allem können wir nicht erkennen, was uns weiter oberhalb erwartet, wo der beste Durchschlupf ist. Wolfgang äußert verständlicherweise größte Bedenken und Ratlosigkeit. Ohne Zögern, völlig unaufgeregt, wende ich mich nach links und gewinne in schöner Kletterei in glücklicherweise besten, kompakten Firn nach etwa 10 Metern eine wesentlich geneigtere Zone und sehe den Weg zum Gipfel offen.
Ein freudiger Ruf zurück und Wolfgang kommt in meinen Tritten nach, "ohne Mut aber auch ohne Angst", wie er mir später verriet. Diese Beschreibung seines Seelenzustandes sagt eigentlich alles, trifft den Kern. Im entscheidenden Augenblick läuft alles wie von selbst in die einzig richtige Richtung. Die körperlichen und geistigen Kräfte sind gebündelt und voll einsatzbereit, weil sie aus dem Reichtum des unbewußten Wissens schöpfen.
Diese Passage hätte länger sein können, auch dann hätten meine Kräfte und mein Selbstvertrauen ausgereicht. Ich brauche mir weder Mut einzureden noch Angst zu überwinden. Die Bedenken, die Furcht waren am Einstieg zurückgeblieben. Am erstaunlichsten für den Außenstehenden mag vielleicht die Tatsache erscheinen, dass ohne Überlegungen auf Anhieb der erste Weg durch die Wand gefunden wurde. Für mich keineswegs erstaunlich. Ich brauchte eben vorher nicht zu wissen und konnte auch vorher nicht wissen, was mich erst später die entsprechende Situation an Wissen zutage fördern ließ.
Es ist 15:00 Uhr, seit Mitternacht bin ich auf den Beinen. Ca. 1300 Höhenmeter zwischen 6750m und 8035m liegen hinter mir. Es stürmt. Die Umgebung ist grandios. Der K2 steht direkt nebenan. Mein Kamerad Jürgen Altgelt aus Düsseldorf und ich stehen allein auf dem Gipfel des Gasherbrum II. Was ich fühle, was mich bewegt, nachdem der Traum von 8000m in Erfüllung gegangen ist:
Überhaupt nichts! Leere im Hirn, keinerlei Emotion, selbst der Körper ist abgestorben. Ich bemeke nicht einmal beginnende Erfrierungen an de Fingern. Schnell zwei, drei Fotos; Jürgen wendet sich zum Abstieg über den ganz oben messerscharfen Grat.
Nun fällt ein Vorhang. Die Stunden des Abstiegs bis zum obersten Lager fehlen mir: Mir sind damals ca. 5 Stunden abhanden gekommen. Als ich nun zum ersten Mal einige Zeit später über diesen Abstieg nachgedacht habe, kam es mir fast wie ein kleines Wunder vor, diese Passage in einem schwarzen Wahrnehmungsloch ohne Unfall geschafft zu haben. Zunächst ein scharfer, sturmgepeitschter Grat, dann eine 300m hohe Steilflanke und das alles lediglich mit Skistöcken.
Meiner Meinung nach lassen sich solche Abläufe nur dadurch erklären, dass in solchen Situationen aus den Tiefen des Unterbewußten aus der Ebene der Psyche im Lauf der Zeit dort angesammeltes und fest verankertes Wissen, ja gleichsam eine "Weisheit des Körpers" sich abrufen läßt.Keine noch so hellwachen Sinne, noch so ein geschärfter Intellekt lenken dann jeden Schritt so exakt, steuern jeden Bewegungsablauf so präzise wie dieses Wissen, von dem wir im Normalen nichts wissen, keine konkrete Vorstellung haben.
In diesem Zusammenhang möchte ich beispielsweise auf Fähigkeiten hinweisen, die unsere Urahnen, die Steinzeitmenschen naturgemäß besitzen mußten, um zu überleben.
Wir Bergsteiger können uns glücklich schätzen, durch unsere Konfrontation mit der Natur in ihrer zum Teil radikalsten Form solche Möglichkeiten des Geistes und der Seele aus dem Zivilisationsschutt, aus dem Wohlstandsmüll unter der Oberflächlichkeit des Alltags des Normalbürgers wieder ausgraben zu können, wieder nutzbar machen zu können. Als Bergsteiger vermögen wir quasi innere Resourcen zu entdecken, die uns im Alltag verborgen bleiben, weil wir sie dort nicht brauchen.
Ich jedenfalls könnte mir ein Leben ohne 35 Jahre Berge nicht vorstellen und hoffe sehr, dass mir noch einige weitere Jahre in den Bergen vergönnt sein mögen. An dieser Stelle möchte ich auch etwas sehr persönliches preisgeben, was durchaus in diesen Zusammenhang gehört. In der folgenden chaotischen Nacht, in einem halb zerstörten, überfüllten Zelt ist meine Frau Anita bei mir. Sie massiert mir die schmerzenden Finger, zieht mich wieder unter die Zeltplane zurück, wenn ich draußen im Schnee gelegen habe, gibt mir einfach das Gefühl von Zuversicht und mentaler Stärke unter diesen lebensfeindlichen Umständen. Geist und Seele führen uns auf die Ebene der Irrealität, um die besten Hilfstruppen mobilisieren zu können. In meinem Fall den mir am nächsten stehenden Menschen: meine Frau.
Gegen Schluss des Abstiegs wehrt sich der Berg dann noch einmal mir einer starken Waffe gegen die kleinen Menschen, indem er ihnen eine zwischenzeitlich weit aufklaffende Gletscherspalte in den Weg legt. Während meine beiden Seilkameraden Dieter und Volker noch unschlüssig überlegen, springe ich als Seilerster ohne zu zögern mit einem sicheren Gefühl, entspringend aus dem Unterbewußtsein, auf einen schmalen Sims, etwa 2 Meter unterhalb des gegenüberliegenden Spaltenrandes. Damit ist der Weg in das Basislager frei.
Wenn nun meine gedanklichen Ausflüge in sicherlich nicht direkt ins Auge fallende Bereiche des Bergsteigens, nämlich solche philosophischer oder psychoanalytischer Natur – Verzeihung, mir fallen leider keine weniger hochtreibenden Umschreibungen ein – sogar etwas an den Haaren herbeigezogen erscheinen mögen, so kann ich mir auf der anderen Seite durchaus vorstellen, dass sich der eine oder andere in eigenen Erlebnissen und Gedanken wiederfindet, oder doch zum Nachdenken angeregt fühlt.
Hier sind wir wieder beim alten Sokrates, dem ersten Philosophen, der sich mit der menschlichen Seele befasst hat. Der Kreis hat sich über 2500 Jahre geschlossen. Bergsteiger sind also doch nicht nur "Eroberer des Unnützen", vielmehr: sie sollen und dürfen es ausschließlich nicht sein.
In diesem Sinne wünsche ich Euch für das kommende Jahr:
Wege in das Licht der Bergeshöhen,
aber ebenso:
Pfade in das Dunkel der Seelentiefe.