Auf Borneo, der bekanntlich drittgrößten Insel der Erde nach Grönland und Neuguinea (höchster Berg Grönlands noch ein Thema?), sind mir immerhin gut 35 Jahren ergrautem "Bergsteigeroldie" noch Erkenntnisse und Erfahrungen widerfahren, die ich bis dato noch nicht kannte.
Dato war im letzten November. Wenn einem also so viel Neues widerfährt, das ist schon einen Nachschlag wert. Hier trifft das Wort: "In den Wäldern werdet ihr mehr finden als in den Büchern" den Nagel auf den Kopf.
Wo in den Bergen braucht man schon eher eine Machete als einen Eispickel? Wo in den Bergen braucht man schon eher einen Salzstreuer als ein Sonnenschutzmittel? Wo in den Bergen zieht man schon eher Gummistiefel als Bergschuhe an die Füße? Wo in den Bergen benutzt man eher Lianen als ein Bergseil? Wo in den Bergen fährt man mit dem Boot anstatt mit der Bergbahn zum Ausgangspunkt? Wo in den Bergen bräuchte man eher einen Lehrgang in Seiltänzerei anstelle eines Kletterkurses als Vorbereitung? Wo geht man an einen Berg als Ersatz für eine Sauna? Wo ist ein ca. 2400m hoher, schwarzwandiger Hügel wesentlich schwieriger zu besteigen als ein Gipfel von 4100m Höhe?
Verehrter Leser, du weißt es natürlich längst: Auf Borneo!
Ein paar (wahrscheinlich überflüssige) Erläuterungen zu den Fragen: Ad Salzstreuer: Sehr wichtig gegen Blutegel! Ad Lianen: Um sich unter Umständen über das nächste Matschloch zu schwingen (Tarzan lässt grüßen). Ad Seiltänzerei: Hilfreich beim Balancieren über glitschige Baumstämme als Brückenersatz über reißende Bäche.
Ja, der Everest und der Mc Kinley haben mich abblitzen lassen, sicherlich nachvollziehbar, aber jetzt auch noch der Gunung Murud, 2438m vom Habitus eher ein Schwarzwaldgipfel, nur mit anderen Bäumen drauf. Aber wenn man weiß, dass diese Berge bis in die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts den Bergsteigerversuchen Widerstand geleistet haben, dann erscheint die Sache in einem anderen Licht.
Unbestritten waren wir zwei Wochen in der Südsee; nur, was die land- läufige Meinung mit einem Südsee-Aufenthalt verbindet, davon kann keine Rede sein. Das belegt am besten die Tatsache, dass ich im Anschluss an die übrigens erfolgreiche Pirsch auf die größte Blume der Erde, die Rafflesia, völlig durchnässt mit Wasser in den Schuhen und ziemlich verschmutzt in letzter Minute den Bus zum Flughafen für die Rückfahrt erreichte und mir erst nach der ersten Etappe, einem Inlandsflug, in Kuala Lumpur, auf einer Toilette wieder ein menschenwürdiges Aussehen verschaffen konnte. Aus dem Dschungel direkt in den Flieger. Mit anderen Worten: Wir haben uns mehr oder weniger die ganze Zeit am Busen der Mutter Urnatur aufgehalten, mit allen Vorzügen, die man auf solche Art genießt, abgesehen von einigen kleinen Unannehmlichkeiten, jedenfalls für einige von uns. Persönlich habe ich den Kampf mit den Blutegeln, die Witterungsunbilden, das ungewohnte Klima, oder auch mal eine sehr ungastliche Übernachtungsmöglichkeit als mehr als Salz in der Suppe empfunden, die mir sehr gut geschmeckt hat, welche man ansonsten bei uns aber nicht zu essen bekommt.
Einige Zutaten dieses Suppenrezeptes, die, wie gesagt, bei uns leider nicht verfügbar sind:
Das Fortbewegen auf den Urwaldflüssen, das sich ganz kurzfristig schon mal als Bootschieben oder Boottragen abspielte. Die tropische Vogelwelt an den Flussufern.Vor allem die exotische Vielfalt und Größe der Insekten u.a. die größten Schmetterlinge und das größte Insekt überhaupt, die Stab- oder Gespensterheuschrecke.
Beim ungeheuren Artenreichtum der Flora sind für mich herausragend:
Die Rafflesia als Blume mit der größten Blüte von bis zu 1m Durchmesser und die Vielzahl und Einmaligkeit der insektenfressenden Kannenpflanzen. Auch die spektakulären Pilzformen, denen man im Dschungel häufig begegnet, möchte ich nicht unerwähnt lassen.
Ein ganz wichtiges Ingredienz meiner "Borneosuppe" bilden die Höhlen, die erst in neuester Zeit richtig entdeckt worden sind und erforscht werden. In diesem Zusammenhang sind Superlative nicht zu hoch gegriffen: die größte Höhlenhalle, längste Höhle, einzigartige Tropfsteingebilde.
An der Deer-Cave schließlich kann man allabendlich ein Spektakel erleben, das bei mir den tiefsten Eindruck der gesamten Borneoreise hinterlassen hat. Drei Millionen Fledermäuse verlassen bei trockener Witterung gegen Sonnenuntergang durch eine relativ kleine Öffnung in der Decke der riesigen Eingangshalle diese Höhle, um sich zur Nah-rungsaufnahme im Urwald zu verteilen. Ein grandioses Wunder der Natur, das der Mensch nur staunend verfolgen kann: Wie auf ein geheines Startkommamndo, jeden Tag zur gleichen Zeit, strömen aus allen Winkeln und Gängen der Höhle die Tiere nach und nach in die riesige Eingangshalle, dort noch offensichtlich in einem gewaltigen chaotisch erscheinendem Knäuel durcheinander flatternd. Sobald aber die Tiere die Öffnung in der Höhlendecke verlassen, befinden sie sich sozusagen von einer Sekunde auf die andere in einer exakten Marschordnung.
Sie fliegen lautlos in etwa zehn Reihen neben-einander mit kleinen slalomartigen Richtungsänderungen als nahezu endlos erscheinendes Band während ca.einer Stunde in den vom Sonnen-untergang magisch beleuchteten Himmel, um ihre Formation nach kurzer Zeit über dem Dschungel aufzulösen. Man könnte an eine 10spurige Autobahn denken, auf der sich Stoßstange an Stoßstange alle Fahrzeuge in schnellem, gleichmäßigem Fluß in eine Richtung fortbewegen: ein fantastisches Bild! Angesichts dieser perfekten Demonstration einer Überlegenheit der Natur über die Möglichkeiten der Menschen erlebe ich einen Zustand, der sich schwer beschreiben lässt, etwa mit tiefer Befriedigung, mit dem Gefühl, in einem großen Ozean der Ruhe zu sein.
Ich versuchte dieses Phänomen auf menschliche Dimensionen zu reflektieren. Ich stellte mir vor, sämtliche Einwohner Berlins würden jedenAbend auf Kommando die Stadt geschlossen verlassen müssen, um in die umliegenden Wälder auszuschwärmen. Völlig absurd! Jegliches nur annähernd scheinendes Bild bleibt undenkbar.
Meine Faszination, meine Hochstimmung wurde auf dem Rückweg von der Höhle zu unserer Lodge noch einmal gesteigert. Der halbstündige Marsch durch den nächtlichen Dschungel war für mich, wenn es denn nicht zu pathetisch klingt, eine Offenbarung.
Bewußt blieb ich ein Stück hinter unserer Gruppe zurück, um die Signale des nächtlichen Urwaldes uneingeschränkt auf mich wirken zu lassen. Da waren die akustischen Signale, die vielfältigen geheimnisvollen Laute und Geräusche, die ja erst mit der Dunkelheit einsetzen, hervor-gerufen durch Tierlaute, durch Flügelschlag, durch Zikadenlärm, durch das Brechen von Ästen, durch das Knacken von morschem Holz, durch geheimnisvolles Rascheln im Unterholz.
Die optischen Signale waren ebenso "berauschend". Das Adjektiv "berauschend" benutze ich bewußt, um eine gewisse Gleichartigkeit von Zuständen zu beschreiben, wie sie einerseits durch halluzinogene Rauschdrogen künstlich erzielt werden, andererseits aber - wie hier - durch natürliche Sinneseindrücke hervorgerufen werden, ein "natural high" eben.
Was die Augen aufnehmen konnten, war eine Lichtorgie, die von Leuchtkäfern und Feuerfliegen produziert wurde. Zwischen diesem Weben und Wogen abendtausender Lichter huschte hier und da lautlos eine Fledermaus vorbei, mehr eine flüchtige Ahnung als eine reale Wahrnehmung. Durch die dichten, hohen Baumkronen blitzte hin und wieder der Vollmond. Hier habe ich hautnah erlebt: In der Dämmerung erst erwacht der Urwald, die perfekte Inszenierung eines Naturschauspiels allerhöchsten Ranges.
In dieser Nacht lag ich wach, musste ich doch zuerst den "realen Traum" verarbeiten, um Schlaf zu finden, um in das eigentliche Traumland zu gelangen.
Der wichtigste Bestandteil der Suppe war dennoch das Eintauchen in eine andere Menschenwelt, in eine andere Form, den Alltag zu gestalten, in eine andere Art, mit der Zeit umzugehen: 14 Tage Balsam für Seele und Gemüt. Gastfreundlichkeit, Herzlichkeit, Heiterkeit, Hilfsbereitschaft, immer gute Laune; das sollte abfärben. Deshalb konnte ich nicht begreifen, warum einige von uns sich aufregten, als die Fahrt von Lawas nach Bakelalan statt vorgesehener acht Stunden sechzehn Stunden dauerte; eine schlammige Urwaldpiste ist eben keine Autobahn! Balelalan ist übrigens ein Geheimtip im Herzen des Dschungels, wohin sich im Jahr höchstens 50-60 Fremde verlaufen.
Direkt beschämend war das Benehmen einiger, die glaubten, als wir morgens um 2 Uhr im Gästehaus in Balelalan ankamen, ihrem Frust lautstark Ausdruck verleihen zu müssen. Obwohl unser Gastgeber herzlich und gut gelaunt jetzt noch die Küche aktivierte und für jeden eine Flasche Bier hervorzauberte. Bald jedoch mussten sich auch die Nörgler und Anspruchsverfechter unter uns, wenn auch mehr oder weniger widerwillig, mit den neuen Gegebenheiten abfinden. Wir lernten, dass alle Planungen und Vorgänge Bedingtheiten und Abhängigkeiten unterworfen sind, die keine exakten Voraussagen zulassen. Das ist bei uns im hochzivilisierten Westen grundsätzlich nicht anders, nur dass wir uns viel schwerer damit tun und krampfhaft versuchen, diese Gegebenheiten möglichst auszuschalten und uns damit unter Druck zu setzen, sei es zeitlich oder auf andere Weise.
Dort in Borneo, zumal im hintersten Dschungelwinkel, haben die Menschen aufgrund ihrer angeborenen Mentalität und weniger zugespitzten Lebensumständen dieses Problem nicht.
"All depends", diese Alltagsweisheit der Eingeborenen wurde auch unter uns bald zum geflügelten Wort. Ein Glück nur, dass kein "Urkölscher" bei uns war, denn dieser hätte natürlich verstanden "All die Pänz", auf Hochdeutsch "Alle die Kinder". Somit wäre er ohne "Dolmetscher" um den Genussdieser grundlegenden Wahrheit gekommen: "Alles ist voneinander abhängig:" Am Rande vermerkt ist damit auch erwiesen, dass philosophisches Denken auch im hintersten Dschungel zumindest in rudimentärer Form vorhanden ist.
Aber dass diese "edlen Wilden" nicht immer so edel, hilfreich und gut waren, aoll auch erwähnt sein. Als unser Gastgeber abends nach einigen Gläsern Reiswein so richtig in Fahrt kam, da brach der Stolz auf seine Vorfahren aus ihm heraus: "Mein Großvater, selbst mein Vater noch, das waren kernige Männer. Entweder haben sie Tag und Nacht Reiswein gesoffen oder sie befanden sich auf der Kopfjagd. Nachdem wir mittlerweile missioniert sind – im Zuge und im Anschluss an den zweiten Weltkrieg – ist das natürlich kein Thema mehr. Selbst den Reiswein will uns der Missionarspastor verbieten."
Welch ein Abstieg! (das habe ich gesagt). Ein Glück nur für uns, dass die Zeiten, in denen anscheinend die wichtigsten Mannestugenden im Saufen und Köpfeabschlagen bestanden, vorbei sind. Ich denke allerdings, dass bei unserem Gatsgeber die Höhe des Alkoholspiegels mit dazu beigetragen hat, seine Vorfahren derart zu glorifizieren.
Eh ich’s vergesse:
Wir waren noch auf dem Kinabalu, mit 4100m immerhin der höchste Berg Südostasiens. Interessant war’s, Massenbetrieb gab’s. Nach meiner Hochrechnung versuchen jedes Jahr 50.000-60.000 Leute den Gipfel zu besteigen. Der Berg hat schließlich Ganzjahressaison. Allerdings wird ein relativ großer Prozentsatz den Gipfel nicht erreichen, denn nach meinen Eindrücken versucht sich einfach jeder Hinz und Kunz an diesem Berg. Trotzdem dürfte er nach dem Drachenfels der meistbestiegene Berg der Erde sein.
Zum Schluss sollte ich noch einmal auf den Anfang zurückkommen.
Am Gunung Murud, diesem 2438m hohen Dschungelmugel bin ich ohne Gipfelerfolg umgekehrt. Aber mittlerweile tröste ich mich mit einer weisen Sentenz eines ganz großen in der Geisteswelt, der u.a. auch etwas für die Berge und für das Bersteigen hatte. Inwieweit dises Interesse auch praktischer Natur war, weiß ich nicht sicher, denke aber, dass er über Bergwanderungen nicht hinausgekommen ist. Doch seine Weisheit sollte sich jeder ambitionierte Bergsteiger ins Stammbuch schreiben.
Es handelt sich um Friedrich Nietzsche:
"Im Gebirge (der Wahrheit) kletterst du niemals umsonst;
entweder du erreichst schon heute den Gipfel
oder übst deine Kräfte für morgen."