Datum: 19. 12 1999
Autor: Karl Zöll
Wie es bekanntlich "falsche" Bergsteiger und "unechte" Gipfel gibt - das läßt sich durchaus begründen, ist aber nicht das Thema - gibt es auch "echte" Biwaks und solche die den Namen nicht verdienen.
Das Wort Biwak bedeutet laut Duden soviel wie Feld(nacht)lager, kommt also aus dem militärischen Bereich. Ich denke aber, daß ein Biwak im bergsteigerischen Sinne eine Einschränkung dieser Definition in Form einer Verschärfung beinhalten sollte. Ein richtiges Biwak ist nach meiner Meinung unvorbereitet und improvisiert.
Bei meinen mehrfachen Nächten im Gebirge unter freiem Himmel war im Grunde nie etwas geplant oder vorbereitet. Doch einmal habe ich eine Ausnahme gemacht, gewissermaßen ein nächtliches Openair-Festival für ein handverlesenes Publikum auf einem Berggipfel veranstaltet mit dem Titel: "Eine Nacht auf dem kahlen Berge".
Die glorreiche Idee für dieses Event kam mir in einer Zeltnacht im Basislager am Everest auf 5200 m, als man wieder kein Auge zu bekam. Vielleicht hat damals die klare, kalte Höhenluft den Kopf freigemacht, für Gedanken und Überlegungen in Richtung einer Freinacht auf einem Berggipfel wo und wie auch immer.
Der Anstoß war da, und zu Hause kristallisierte sich dann eine konkrete Planung heraus. Ausersehen als Bühne für meine Träume wurde der Profitis Elias in Griechenland mit 2407m der höchste Berg der Peleponnes ganz in der Nähe von Sparta, von der Höhe her ein Zwerg, der aber unter den gegebenen Umständen zu einem Giganten wurde.
Aber fangen wir von vorne an:
Zu viert starteten wir im Oktober vor einigen Jahren Richtung Athen. Mit dabei waren meine Frau Anita, Sohn Tobias und Freund Paul. Im Gepäck befanden sich zwei Seesäcke mit Biwakausrüstung für vier Personen. Wenn Griechenland die Wiege der abendländischen Kultur genannt wird, dann ist die Peleponnes sozusagen die Wiege der altgriechischen Kultur. Zwangsläufig stellt diese Landschaft somit für den kulturbeflissenen und historisch interessierten Reisenden ein wahres Eldorado dar.
Nachdem wir so auf Umwegen von Athen über Korinth, Mykene, Olympia per Leihauto nach Sparta geraten waren, sich also ein Höhepunkt an den anderen gereiht hatte, stand uns jetzt die Krönung des Urlaubs bevor.
Auf dem Stadtplatz von Sparta schaut uns am Nachmittag der Profitis Elias bei klarem Wetter ins Retsinaglas und fordert uns unmißverständlich auf: "Heute abend erwarte ich Euch hier oben." Übrigens: Profitis Elias = Prophet Elias, der bekanntlich mit einem feurigen Wagen gen Himmel fuhr - ist gewissermaßen der orthodoxe Nachfolger des antiken Sonnengottes Helios. Nebenbei: In Griechenland gibt es mehrere Berge dieses Namens, besagt, bei den Orthodoxen wird der Prophet Elias vorzugsweise auf Bergen verehrt, was durchaus nachvollziehbar ist.
Wir reißen uns also von den Fleischtöpfen und Weinkellern Spartas los und folgen der Stimme des Propheten, nicht ohne uns vorher ordentlich verproviantiert zu haben: Schafskäse, Weißbrot, Tomaten und natürlich etwas "Spirituelles" in Form von griechischem Wein.
12 km des Aufstieges lassen sich noch mehr schlecht als recht auf einer Schotterpiste fahrend zurücklegen, nämlich bis zur Schutzhütte der Sektion Sparta des griechischen Alpenvereins, getreu dem Motto unseres ersten Vorsitzenden "Rudrich von Berniken": "Was der Bergsteiger fahren kann, das braucht er nicht zu tragen."
Und Tragen ist jetzt angesagt: Paul und ich packen zwei Riesenrucksäcke, und die Viererseilschaft verläßt den von mächtigen alten Schwarzkiefern umstandenen Hüttenplatz in die Abenddämmerung und in die große Stille hinein. Seitdem wir die Straße hinter Sparta verlassen haben, ist uns keine Menschenseele mehr begegnet. Das sollte so bleiben, bis wir wieder zur Straße zurückkommen.
Bald ist es dunkel, die Sonne muß schon hinter dem über uns aufragenden Bergrücken untergegangen sein. Als wir die Scharte in diesem Grat erreichen, springt uns ein Weststurm an, der Paul und mich jeden Augenblick umzuwerfen droht. Gottlob ist der Weg leicht und nicht zu verfehlen.
So hasten wir, ständig mit dem Gleichgewicht kämpfend, die letzten 15 Minuten im Dunkeln zum Gipfel: Wahrlich ein stürmischer Empfang! Wir sind in diesen wenigen Minuten völlig ausgekühlt und suchen notdürftig Schutz zwischen ein paar niedrigen Mauern; Reste einer Eliaskapelle, wie es scheint. Tatsächlich taucht im Schein der Stirnlampen am Boden liegend eine große Marmorplatte mit einem verwitterten Relief des Propheten auf. Am nächsten Morgen haben wir versucht, ihr einen etwas besseren, erhöhten Platz zu verschaffen. Sobald es uns wieder einigermaßen warm ist - meine Finger waren völlig steif vor Kälte gewesen - stellen wir aus den mitgebrachten Vorräten ein zünftiges Gipfeldinner zusammen: Köstlich!
Inzwischen ist der Sturm, so schlagartig er uns überfallen hatte, auch wieder abgeflaut. Nur noch ein leichtes Wehen ist ab und zu zu spüren. Es ist spät geworden. Im Windschatten einiger Mauerreste richten wir einen Steinwurf von der Kapelle entfernt unser Nachtlager her.
Eine Isomatte unter uns, ein Schlafsack um uns, der Sternenhimmel über uns: Traumhaft!
Von den Schotten heißt es, daß sie sich mit der nötigen Portion Whisky innen mit dem Regen zudecken. Demgegenüber sind wir direkt komfortabel gebettet.
Was dann kommt, was ich in dieser Nacht und dem folgenden Morgen erlebt und empfunden habe, was mich bewegt hat, kann man mit Worten kaum beschreiben- wenigstens ich bin nicht so wortgewaltig. Wie heißt es so schön: Man muß es erlebt haben.
Um den Genuß auf die Spitze zu treiben, habe ich einen Walkman dabei bestückt mit Beethovens Klaviersonate Nr. 14 cis moll op 27 Nr. 2, volkstümlich bekannt als "Mondscheinsonate"
Da wir gerade bei der Musik sind: Mussorgskis Musikstück: "Eine Nacht
auf dem kahlen Berge schien mir weniger zu diesem Ereignis zu passen, obwohl ich ihm den Titel für diesen Bericht geklaut habe.
Was soll ich jetzt noch sagen? An dieser Stelle müßte der geneigte Leser die Kassette oder CD mit der "Mondscheinsonate" auflegen, um über das Klangbild über den Hörgenuß eine visuelle und spirituelle Vorstellung dieser Nacht zu gewinnen.
Was sage ich, jetzt hätten ein Pindar ein Goethe (über allen Gipfeln ist Ruh) dabei sein müssen, um die "Offenbarung" dieser Nacht adäquat in Worten festzuhalten.
Sei es drum: Mit meinen persönlichen Worten will ich trotzdem versuchen, die Eindrücke dieser Nacht und des folgenden Morgens festzuhalten, was ich gesehen, gehört, empfunden, gedacht, geträumt, kurz erlebt habe. Ist doch Erleben die Steigerung von Leben. Stille der Sternennacht, ab und zu untermalt durch die Stimme des Nachtwindes - oder ist es gar die Sphärenmusik der alten Griechen -, der unwirklich klare Himmel (den Andromedanebel sieht man sehr gut mit bloßem Auge) von unzähligen Sternschnuppen durchkreuzt (die Jahreszeit ist besonders Sternschnuppen - trächtig), die Milchstraße zieht wie eine imaginäre Himmelsautobahn durch das Firmament, die Sternbilder wandern über uns hinweg, später kommt der abnehmende Mond dazu. Einzig die Lichter von Sparta 2200m tiefer erinnern uns daran, daß es in dieser Nacht auch noch "Irdisches" gibt.
In diesem Zusammenhang fällt mir Kant ein der sinngemäß wiedergegeben sagt, daß es zwei unverrückbare Expositionspunkte für den Menschen gibt: Das Naturgesetz in uns und der gestirnte Himmel über uns. Dann der Sonnenaufgang: (habe ich überhaupt geschlafen?) Als würden Meer und Himmel in einem flammenden Inferno sich verschmelzen. Die Phantasie, der Mythos der alten Griechen wird schlagartig Realität. Helios taucht im Osten mit seinem von flammenden Pferden gezogenen Sonnenwagen aus der Flut des weltumspannenden Oceanos auf, um seinen Tageslauf zu beginnen, welch ein Bild, welch eine monumentale Schau.
Was sind wir doch für armselige Stümper und Ignoranten, daß wir alles mathematisch-physikalisch erklären müssen. Was geht uns nicht alles verloren! vor allem das Staunen! Wer nicht mehr staunen kann, ist für mich ein armer Schlucker.
Auf welcher grandiosen Bühne spielt sich das alles ab!
In welcher erstklassigen Proszeniumsloge bin ich als Zuschauer dabei! Gleichsam auf einer Klippe zwischen dem ägäischen Meer im Osten und dem ionischen Meer im Westen.
Hier kommen drei großartige Komponenten griechischer Landschaft zusammen : Land - Meer - Licht .
An eine solche "Eigeninszenierung" kann keine noch so perfekte Fremdinszenierung" und sei es auch eine Wagneroper in Bayreuth heranreichen.
Das Ergebnis ist ein einmaliges Highlight im Leben eines Bergsteigers wie beispielsweise auch die Besteigung eines Achttausenders.
Im übrigen bin ich davon überzeugt, daß auch diese einzigartige Landschaft eine gewichtige Rolle dabei gespielt hat, daß hier in Griechenland die erste wirkliche Hochblüte von Kultur, Wissenschaft, Zivilisation und Politik in der Menschheitsgeschichte stattfand. Phantasie, Kreativität, Innovation, Genialität sind sicher auch mitbestimmt durch landschaftliche Gegebenheiten.
Nach diesem kleinen Exkurs wieder zurück in die Gegenwart.
Was nach einem eher kärglichen Frühstück auf der Mauer folgt ist Eintauchen aus der klaren, kühlen Bergluft in Staub, Hitze, Lärm, Geschäftigkeit und Geschwätzigkeit der niederen Regionen. Welch ein Kontrast!
In diesem Augenblick muß ich mir aber doch eingestehen, daß der eiskalte Nescafe, mit dem wir unseren lechzenden Durst in ersten Ort löschen, auch ein innerer Vorbeimarsch sein kann.
Also, lassen wir das Bergsteigen ein großartiges Pendant sein zu den "Niederungen" des Alltags, ein Pendant, das uns die "Oberen Etagen" dieser Welt sowohl im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne erschließt.
Wie sagt doch Edward Whymper: "Ich habe Freuden genossen, die mit Worten nicht beschrieben werden können "
Dem möchte ich zustimmen und hinzufügen:
Ich habe Bilder aufbewahrt,
ich habe Erinnerungen festgehalten,
die ich jederzeit wieder zum Leben erwecken kann,
die mir das Leben lebenswert machen,
die zu meinen größten Schätzen gehören die mir allein gehören,
die mir nichts und niemand nehmen kann.