Donnerstag 18.11.2010 8:10 MET: Alles hat einen Anfang…
Es war ein ganz normaler Morgen in einem Hörsaal der RWTH in Aachen und das nächste Wochenende stand so zusagen schon direkt in den Startlöchern. Wie für ein Novemberwochenende üblich würde ich meine kostbare Freizeit mal wieder in den Kletterhallen der Kölner Umgebung verbringen und so geduldig auf den Frühling oder die ersten Sonnenstrahlen im Januar warten. Schon seit Wochen hatte das kaltnasse Wetter bereits ein Klettern oder Bouldern am Fels erfolgreich verhindert. Da kam mir wenig Motivation gerade recht, um die noch folgende Vorlesung ohne Einschlafen zu überstehen.
„Hey Sven, fahr doch mal zum Klettern in die Türkei!“ hieß es von einer ebenfalls felsversierten Kommilitonin (die zwar 7 Semester gebraucht hatte, um zu verstehen, dass Klettern schöner ist als studieren…aber besser spät als nie) aus der Reihe über mir. „Morgen Elena, hör erst mal auf dich vor dem Kieselklettern in der Eifel zu drücken, bevor du von den Exoten schwärmst!“ lautete meine Antwort. Für die nächsten 90 min waren meine Gedanken dann doch im sonnigen Süden. Ich dachte an Meer, warmen Fels und gutes Essen. Pünktlich zum Ende der Vorlesung wurde ich dann wieder wach und war gezwungen mich erneut mit Regen und Herbststürmen auseinander zu setzen.
Donnerstagabend, noch am gleichen Tag. Die ganze Tagträumerei hatte schließlich ihren Tribut gefordert. Zwei Flüge für zwei Personen in die Türkei und eine Holzhütte im türkischen Hinterland waren gebucht…es konnte losgehen. Die nächsten Monate in den Kletterhallen und den heimatnahen Klettergebieten vergingen wie im Flug, man hatte ja schließlich auch „DAS ZIEL“ vor Augen.
Sa. 11.06.2011 03:00 türkische Ortszeit: Das Abenteuer beginnt…
Völlig ausgetrocknet von der Klimaanlage in der Flugzeugkabine und gerädert infolge des Nachtflugs stranden Andrea und ich in Antalya. Zum Glück ist unsere total paranoid überversicherte Kletterausrüstung nicht verloren gegangen,…schade um das neue Auto, welches ich mir von der Versicherungspolice hätte kaufen wollen! Unmittelbar vor dem Flughafen werden wir von Achmed aufgelesen, der schnellsten bemüht ist uns aus der Touristenhölle ins Hinterland zu fahren. Mit Entsetzen beobachte ich den türkischen Stadtverkehr und Achmeds eigenwillige Interpretation der Straßenverkehrsordnung (ohne zu wissen, dass ich nur wenige Tage später genauso, wenn nicht sogar schlimmer Auto fahren werde). Todmüde und verängstigt von der langen Autofahrt kriechen wir schließlich unter die Gaze unseres Bettes und vertrauen darauf, dass die Geckos, die in der rustikalen Holzhütte zahlreich vorhanden sind, uns zusätzlich weitere Mücken, die leider auch zahlreich vorhanden sind, vom Hals halten.
Am nächsten Morgen treiben uns Hunger und Durst aus den Federn. Doch der Anblick des unbeschreiblich faszinierenden Geyiksivrisi (1715m), der sich unmittelbar vor unserem Balkon auf einem von Grotten und Höhlen zerklüfteten Kalkmassiv aufbaut entschädigt für alles. Die Anziehungskraft dieses Berges ist so enorm, dass ich ihn bis zum Ende des Urlaubes etwa zwanzigmal fotografiert haben werde. Sofort entwickelt man den Wunsch diesen Berg zu besteigen. Die Informationen im Führer, insgesamt 15 h rauf und runter, keine Wege und vor allem die mangelnde Kondition der beiden Gipfelaspiranten lassen die Unternehmung jedoch schnell in der vollen Schublade der nicht erledigten Projekte verschwinden. Unmittelbar hinter unserer Blockhütte zieht sich ein 30 m hoher, rot schimmernder Felsriegel von mehreren hundert Metern entlang, welcher mit gewaltigen Überhängen, ausladenden Dächern und atemberaubenden Sintersäulen aufwartet. Völlig überfordert von den Eindrücken bemerke ich erst wesentlich später das zweite, wirklich sehr große Massiv, welches sich direkt über dem ersten befindet und sich auf mehrere Kilometer beläuft. Irgendwie dazu passend entdecke ich das Namensschild unsere Blockhütte…NIRVANA.
Wir befinden uns in einer gewaltigen Kalkschlucht in den Ausläufern des Taurusgebirges, quadratkilometerweit nichts, das muss der Stoff sein aus dem Kletterträume gemacht sind.
Nichts desto trotz steht heute erst mal der Marsch in das nächstgelegene Bergdorf an, um uns mit Lebensmitteln und Wasser zu versorgen. Etwa einen Tagesmarsch nordwestlich soll es in den Bergen ein kleines türkisches Bauerndorf mit einer kleinen Einkaufsmöglichkeit geben. Mit Rucksäcken machen wir uns bei brütender Hitze zu Fuß auf den Weg. Schon von weitem sehen wir die Türme der kleinen Moschee und erreichen schließlich nach mehreren Stunden vollkommen durchgeschwitzt den provisorisch eingerichteten „Tante Emma Laden“. Hier gibt es wahrscheinlich kilometerweit den einzigen Kühlschrank. Tiefste Türkei! Mit Händen und Füßen wild gestikulierend kaufen wir ein. Heilfroh über alles ess- und trinkbare zahlen wir dem Bergbauern jeden, aber auch wirklich jeden Betrag. Mit vollen Rucksäcken, stolz auf das erbeutete Bier und die geleistet Entwicklungshilfe (der Bauer hatte den Laden anschließend für mehrere Tage geschlossen!) treten wir den Rückweg an und genießen die Landschaft. Natürlich sollte in diesem Urlaub kein Tag vergehen, an welchem nicht auch geklettert wurde, die altbekannte Kletterweisheit „Never touch a rock on a rest-day“ konnte mir nach den Eindrücken des heutigen Tages für die nächsten zehn Tage gefälligst gestohlen bleiben. Lieber sollten mir beide Arme und alle zehn Finger abfallen.
Gegen Abend stiegen wir über ein Fixseil in die nächst gelege Schlucht ab um dort im Lichte des Sonnenunterganges die ersten Routen des Urlaubs zu ziehen. Der erste Felskontakt hatte wirklich etwas magisches, die Kletterei hatte bereits jetzt vollkommen von uns Besitz genommen.
Di. 14.06 2011 9:30 türkische Ortszeit: Das Glück liegt auf der Straße…
Obwohl wir uns in den vergangenen Tagen wie in einer anderen Welt bewegt und gefühlt hatten und das Motto „eat-sleep-climb“ unseren Tagesrythmus fest bestimmt hatte, haben wir es doch irgendwie geschafft für heute einen Leihwagen zu organisieren. Neben Achmed, der ab und zu nach dem Rechten sah und zu unserem Leidwesen nur Türkisch spricht haben wir inzwischen auch Mustafa kennen gelernt, der ein paar Worte Englisch verstand und uns schließlich den Leihwagen für zwei Tage überlassen sollte. Nachdem wir in den letzten Tagen wirklich den ganz großen Klettertraum gelebt hatten und jeden Tag morgens von 7:00 bis 11:00 Uhr und nachmittags von 17:00 20:00 Uhr in den verschiedensten Sektoren eine schöne Linie nach der anderen geklettert waren, war es nun eine Wohltat im sogenannten Urlaub auch mal nach 6:00 Uhr aufzustehen und die Lebensmittelvorräte wieder aufzufüllen oder gar einen Strand besuchen zu können. Aber was wäre ein Tag in einem der schönsten Klettergebiete der Welt, wenn man nicht abends im letzen Licht des Tages, entgegen aller guten Vorsätze, wieder in der nächsten Traumtour hinge.
Schnell hatte ich mich dann auch an den türkische Straßenverkehr gewöhnt: Es wird grundsätzlich in zweiter und dritter Reihe gefahren, in dritter und vierter Reihe geparkt, bei jeder Gelegenheit gehupt, links und/ oder rechts Überholt und wer an einer roten Ampel hält, hat selbst schuld. Generell fährt man eher langsam und nur wenige Meter vorausschauend, die Straßenränder sind schließlich gesäumt von Schlaglöchern in denen man locker einen handelsüblich Smart versenken kann!
Do. 16.06 2011 10:35 türkische Ortszeit: „Deep Water Solo“ Olympos Beach wir kommen…
An unserem zweiten Tag mit Mustafas Wagen waren wir auf der großen Küstenstraße ins 100 km südwestlich gelegenen Olympos unterwegs. Die Gedanken an weitere Klettergebiete unmittelbar in einer wunderschönen Lagune, ein Traumstrand und schließlich die Aussicht auf ein spritziges „Deep Water Solo“ oder „psicobloc“, wie es hier im Mittelmeerraum genannt wird hatten sich mal wieder verselbstständigt. Ein komisches Gefühl mit Kletterschuhen zu schwimmen, aber der nur 50 m vom Strand entfernte Kalk, welcher etwa 10 m aus dem blauen Meer herausragt und mit einigen Kletterrouten auf uns wartet, übt eine solche Faszination aus, da kann man einfach nicht lange am Strand liegen bleiben. Noch viel spannender als die eigentliche Kletterei über dem Wasser ist dann tatsächlich der Moment des oben Seins und des runter Schauens. Man holt tief Luft und springt, man springt einfach, zumindest in Gedanken. So einfach ist es leider dann doch nicht. Nach dem dritten gescheiterten Versuch sich zu überwinden, entscheidet man sich erst mal noch ein Stück ab zu klettern und dann schließlich zu springen. Noch mehrere Male klettern wir die Routen über dem Wasser. Unter uns schlagen die Wellen sanft an den Fels, die Sonne trocknet das Wasser auf der Haut, das Salz bleibt zurück. Man ist vollkommen entspannt.
Sa 18.06.2011 20:00 türkische Ortszeit: „roots of stone love“ Die letzte Tour…
49 Traumtouren, eine Linie schöner als die andere, mindestens 30 Meter lang und alle rot- oder pinkpunkt begangen, eine Handvoll Mehrseillängen und das „Deep Water Solo“.So lautet die Bilanz der letzten sieben Tage. Zu schön um jetzt in der letzten Tour zu scheitern. Exen und Schlingen waren mir schon lange ausgegangen, der zweite Stand nicht vorhanden gewesen und das 60er Seil vermutlich fast am Ende. Blödes Topo! Als nächstes muss dann wohl der Helm als Klemmkeil herhalten. Nach einem langen „Runout“ erreiche ich schließlich den dritten rettenden Stand und hole Andrea nach. Noch während wir uns Abseilen fängt es an zu Gewittern. Wir sind uns einig es war ein gelungener Urlaub, aber nach zehn Tagen „eat-sleep-climb“ im türkischen Paradies freuen wir uns doch wieder riesig auf den Kletter-Alltag in der Eifel und die randvolle Schublade mit nicht erledigten Projekten.