Datum: 19. 12 1999
Autor: Karl Zöll
Zunächst die Auflösung der Quizfrage aus den Reflexionen zum Thema Biwak, 2. Teil! Während wir noch unter dem Eindruck der dort geschilderten prekären Umstände unschlüssig und irgendwie ziellos hin und hergehen.....,
.....tut sich etwas weiter rechts wie ein "Sesam-öffne-dich", wie ein Geschenk des Himmels ein Bilderbuch-Bergschrund auf. Als wir ihn hoffnungsfroh, aber auch etwas skeptisch in Augenschein nehmen, geht es wie ein verhaltener Jubel, wie ein freudiger Ruck durch unsere schon fast mutlose Schar. Hinter einem engen Einschlupf führt eine Rampe abwärts in einen geräumigen Eisdom, der sich an der Hinterwand in zwei Absätzen nach oben erweitert. Das ist unsere Rettung!
Ich kann mich noch genau erinnern: Punkt 20:00 Uhr betreten wir unseren Eisdom. Daran, dass wir auch eine lange, harte Nacht vor uns haben, denkt jetzt niemand. Mit einem Biwaksack natürlich wäre für jeden die Nacht angenehmer geworden. Zum Essen, vor allem aber zum Trinken gibt es auch nichts. Anscheinend hatten wir alle das "rheinische Grundgesetz" im Kopf gehabt, als wir die Tour in Angriff nahmen. Einige Paragraphen, die mir gerade Einfallen, passen ganz gut in den Rahmen: "Et jeht wie et jeht", "Et kütt wie et kütt.", "Et bliev wie et bliev.", "Et hätt noch immer jod jejange.".
Natürlich haben in Wirklichkeit diese "Grundregeln" bei der Planung der Tour keine Rolle gespielt. Auf jeden Fall kann der Tiroler von diesen au der rheinischen Mentalität geborenen Gesetzmäßigkeiten nichts gewußt haben. Allerdings: "Die Tiroler sind lustig, die Tiroler sind froh, sie verkaufen ihr Bettchen und schlafen auf Stroh." Immerhin ein Indiz für deren unbeschwerte Einstellung in Dingen des Lebens. Etwas zum Essen konnte niemand aus dem Hut zaubern. Aber etwas zum Trinken, heißes Wasser wenigstens? Manni hatte einen Esbitkocher dabei, Stoff zur Herstellung von flüssigem H2O ist auch reichlich vorhanden. Jetzt fehlt nur noch ein Gefäß. Da wird die glorreiche Idee geboren, Mannis Rettungsfolie - was hat dieser Manni nicht alles dabei - als Kochtopfersatz zu opfern. Gut formbar ist das Material ja. so entsteht schnell ein entfernt kochtopfartiges Gebilde. Schnee hinein, die Flamme drunter! Naja, jedes Kind hätte uns wahrscheinlich sagen können, dass das nicht funktionieren kann. Die physikalischen Gesetzmäßigkeiten lassen sich auch im Biwak nicht außer Kraft setzen.
Dann kriecht so langsam die Kälte in alle Ecken und Winkel des Körpers, besonders ich bekomme jetzt die Quittung für meine Nachlässigkeit. Bei mir kann die Kälte so schön von unten eindringen. Spätestens jetzt merke ich, dass eine Skilanglaufhose beim Winterbergsteigen und zumal unter diesen Umständen nicht das geeignete Kleidungsstück ist. Was haben wir in dieser Nacht nicht alles angestellt! Ein heimlicher Beobachter hätte uns für eine Gruppe Schwuler auf Betriebsausflug halten können, oder auch für Zirkusartisten beim Training. Zunächst bilden wir eine Sitzreihe, bei der der Hintermann seinem "Vorsitzenden" sozusagen in den Hintern kriecht, die Beine ausgestreckt und wie die Backen eines Schraubstocks zusammengepresst. Davon profitieren naturgemäß die beiden Mittelmänner weitaus am meisten. Deshalb wird von Zeit zu Zeit die Sitzordnung durchgehend gewechselt. Dann erscheint es uns effektiver folgende zirkusreife Formation einzunehmen: Einer legt sich aufs Eis, die anderen stapeln sich drüber. Wieder haben die beiden Außenglieder den schwarzen Peter, besonders aber der Obermann, weswegen dessen Position, im Gegensatz zum Zirkus, am wenigsten begehrt ist.Außerdem tut es gut, ab und zu durch den Eisdom hin und her zu tigern. Der "Käfig" ist gottlob groß genug.
Derweil zieht draußen eine pechschwarze, eiskalte Sturmnacht vorbei. Auch die geht irgendwann schlaflos unter Kälteschnattern vorüber. Ein klarer, schneidend kalter Morgen treibt uns nach draußen, keine halbe Stunde zu früh, denn die Schweizer Bergflugwacht steht in Samedam schon Gewehr, besser Hubschrauber bei Fuß um nach uns zu suchen, falls wir kurz nach Tagesanbruch nicht gesichtet würden. Glücklicherweise haben wie nicht "verschlafen".
Hanns-Hein hatte schon abends Polizei und Rettungsflugwacht alarmiert. Er hatte versucht, uns ständig zu beobachten, was aber durch Wolken und Nebel mehr oder weniger verhindert worden war. So waren wir für ihn von der Bildfläche verschwunden, und er rechnete schon mit dem Schlimmsten, als wir spät abends noch nicht zurück waren. Also suchte man, sobald es hell genug war, den Berg und seine Umgebung nach uns ab. Da die Sicht heute exellent war, dem heiligen Bernhard, dem Schutzpatron der Bergsteiger sei Dank (Hatte wohl einer in der Nacht heimlich zu ihm gebetet.) hatte man uns sofort im Visier, als der Erste den Kopf aus dem Bergschrund steckte. Es konnte Entwarnung gegeben werden.
In Anbetracht dessen, dass keine Spur vorhanden war, ziehen wir einen direkten Abstieg dem sehr spaltenreichen Normalweg vor.Unser österreichischer Freund hat jetzt gut lachen, weil er die Früchte seiner Schlepperei jetzt ernten kann, indem er mit seinen Ski im Handumdrehen unseren Blicken entschwunden ist.
Wir sind aber noch nicht ganz aus dem Schneider, hat sich doch der Piz Palü zum Abschluss noch einen starken Trumpf aufgehoben. Ohne einen bitterbösen Abschiedsgruß wollte er uns nicht ziehen lassen. Wie ich so hinter Wolfgang bergab trotte, ist dieser plötzlich wie von Geisterhand entzogen, lautlos von der Bildfläche verschwunden. Da entdecke ich, wenige Schritte vor mir, quer zur Marschrichtung einen dunkleren Streifen im hellen Firn von höchstens einem Meter Breite. Dann sehe ich das Loch, werfe mich darüber und erkenne erleichtert Wolfgang gut fünf Meter tiefer in der engen Spalte. Außer dass er sich das Kinn am jenseitigen Spaltenrand recht unsanft aufgeschlagen hatte, fehlt ihm offensichtlich nichts. Aber für die Seele war es nicht gerade Balsam gewesen.
Jetzt kommt das Stichwort für Manni. Als versierter THW-Experte mit Improvisationstalent zieht er nun die Fäden. Auch ohne Seil, mit Hilfe einer Art "Notfallset" aus der Tiefe seines Rucksackes, können wir zu dritt - unseren Austriamann hatten wir noch zurückrufen können - und unter tatkräftiger Mithilfe von Wolfgang selbst diesen rasch aus seiner mißlichen Lage befreien. Seit diesem Erlebnis steht Wolfgang verständlicherweise nicht mehr in bestem Einvernehmen mit den Gletschern und Firnen.
Bei den Beobachtern auf der Diavolezza führte dieses Intermezzo zu gewissen Irritationen. Unsere "Niederwerfungen" am Spaltenrand deutete man dort als Schwächeanfälle eines sehr fortgeschrittenen Stadiums. Es fehlte jedenfalls nicht viel, und man hätte uns einen Rettungstrupp entgegengeschickt. Den letzten Akt des Geschehens halte ich keineswegs für ein Ruhmesblatt unsrerseits. Hinterher habe ich gedacht: Warum haben wir uns nicht leise durch den Hintereingang hereingeschlichen, unseren unerträglichen Durst gelöscht und dann still verkrümelt?
So werden wir jedenfalls beim "Einmarsch der Gladiatoren" auf der Diavolezza mit "Standing Ovations" empfangen. Was fehlt ist der rote Teppich, aber den haben manche Staatsoberhäupter auch nicht verdient. Euphorisiert wie wir sind, versuchen wir peinlicherweise zu allem Überfluss noch eine Art Stechschritt aufs Parkett zu legen, wahrscheinlich um zu demonstrieren, wie gut wir alles überstanden hatten. In diesem Augenblick hätte mir Willi Krutsch, genannt der "Kölsche Willi", ein Klottergarten-Original der 60er und 70er Jahre in Nideggen einfallen sollen. Einer seiner Sprüche lautete: "Jong, donn dat Seel in dä Rucksack, de Lück solle nit sinn, dat mir Helde senn." Das sagte er dann, wenn er Kletterfrischlinge antraf, die stolz mit eindrucksvoll auf dem Rucksack drapiertem Seil aus dem Klettergarten kamen. Ja hätte ich damals an Krutsche Willi gedacht, wir wären sicher möglichst unauffällig verschwunden.
Auf der anderen Seite muss man zu unsrerer teilweisen Ehrenrettung sagen, dass wir mehr oder weniger zwangsläufig den Leuten in die Finger laufen mussten. Wir wurden schließlich schon erwartet. Wer konnte aber auch ahnen, dass wir dieser sicherlich kleinen Gruppe von offensichtlich gelangweilten Pistenfans und Sonnenanbetern zu einem kleinen Sensatiönchen verhelfen würden. Die Diavolezza stellt eben einen wunderbaren Logenplatz vor der großen Bühne der Berge dar, von dem aus das Schauspiel Bergsteigen bis in die kleinsten Details zu verfolgen ist. Eine große Ausnahme in der Welt des Alpinismus.
In diesem Zusammenhang kann ich es mir nicht verkneifen, diese Thematik etwas zu vertiefen und Julius Kugy, den Grand Seigneur des klassischen Bergsteigens in einer bestimmten Hinsicht mit Krutsche Willi in einem Atemzug zu erwähnen. Nach seiner Meinung: "...müsse der Bergsteiger wahrhaft sein, vornehm und bescheiden". Die Bergsteiger, die diesem Ideal entsprechen muss man meiner Meinung nach heute als eine wesentlich seltenere Spezies ansehen als die berühmten Eulen von Athen.
Mir sind jedenfalls schon manche Sportsfreunde aus dieser Gilde über den Weg gelaufen, die diesen Ansprüchen nicht immer gerecht werden. Mitglieder unserer Sektion möchte ich ausdrücklich von dieser Kritik ausschließen, ohne jemandem Honig um den Bart schmieren zu wollen. Da bin ich mir ganz sicher ! Abgesehen von dem Attribut vornehm, was immer das auch immer im Zusammenhang mit der Bergsteigerei bedeuten mag, sollten die beiden anderen Eigenschaften zeitlos unabdingbar den Bergsteiger charakterisieren. Genauso wie Seil und Pickel.
Was allerdings die Bescheidenheit angeht, ertappt man sich schon einmal selbst dabei nicht grade immer ein leuchtendes Vorbild zu sein (Siehe oben). Mit der Wahrhaftigkeit ist es unter Bergsteigern nach meinen Erfahrungen vielfach wirklich schlecht bestellt. Wenn die Begriffe Jägerlatein und Seemannsgarn Allgemeingut sind, so fehlt für die Bergsteigerei meiner Meinung nach ein ähnlich geläufiges Bild für die Tatsache, dass es dort mit der Wahrheit auch nicht immer so genau genommen wird wie eben bei Jägern und Seeleuten.
Ich möchte den Begriff Bergsteigermärchen oder noch besser Bergsteigerhochstapelei zur Diskussion stellen. Von solchen Auswüchsen sind die Sektionsmitglieder und Leser des Infoheftes natürlich nicht betroffen, obwohl ein gewisser Rudrich von Berniken die Alpen als Schauplatz von märchenhaften Vorgängen beschrieben hat. Ich habe schon mündliche Auslassungen gehört und schriftliche Erlebnisberichte gelesen, deren Entstehungsgeschichte ich genau kannte, aus denen aber sogar die Gebrüder Grimm noch dazulernen können. So kenne ich beispielsweise jemanden, der vor seiner Sektion- weit weg von hier - einen Diavortrag hält, dessen Bilder zum großen Teil von mir stammen und dem staunenden Publikum diese Sache als seine Erstbesteigung eines Siebentausenders verkauft. Auf der anderen Seite verdient er sogar ein Sonderlob für diese reife Leistung.
Nach diesen vielleicht etwas zu provokativen Ausschweifungen möchte ich für ein Fazit noch einmal auf das eigentliche Thema zurückkommen.
Winterbiwak im wahrsten Sinne des Wortes IM Piz Palü. Generalprobe also für den Himalaya bestanden? Jedenfalls ist das Paradies der großartigen Erinnerungen wieder um ein leuchtendes Kapitel erweitert worden. Allen Lesern des Infoheftes wünscht schöne Weihnachtsfeiertage und einen schwungvollen und erfolgreichen Start ins neue Millennium.