Die Gruppe "Setöll" unterwegs in den Westalpen auf der Jagd nach den letzten Viertausendern
Wer oder was ist "Setöll"?
Ganz einfach: Eine Verballhornung des namens Zöll auf gut französisch. Das war aus meinem Namen auf Grund der telefonischen Anmeldung auf der Couvercle-Hütte geworden, und so werde ich mich in Zukunft zumindest auf der Couvercle-Hütte nennen.
Mit dem Refugio Aosta und dem Dent d´Herens fing es an. Für zwei Mitglieder sicherlich Namen, die im Gedächtnis haften bleiben. Für Siegfried mit Frau Irmgard und Tochter Simone auf jeden Fall im positiven Sinne. Er mußte nach einer großartigen Tour und einem neuen Höhenrekord auf dem Dent d`Herens zusammen mit Christoph als drittem im Bunde jedenfalls eine Runde ausgeben. Für Irmgard und Simone war der Hüttenweg mit Klettereinlage und der Aufenthalt auf der Aostahütte bestimmt ein bleibendes Erlebnis. Simone betätigte sich übrigens als eifrige Steinesammlerin, besonders was Serpentin angeht.
Bei Dirk wird der Name Dent d`Herens eher einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Er hatte das Pech auf halbem Wege zum Gipfel nach einem dummen Ausrutscher sich eine böse Steigeisenwunde in der Wade zuzuziehen. Für ihn waren danach die Gipfel leider in weite Ferne gerückt. Er war aber bis zum Schluß wacker dabei, zumindest bis zur Hütte und bei Klettereien in Hüttennähe. Hoffentlich hat seine große Begeisterung für die Berge nicht gelitten. Ich möchte bei der nächsten Westalpentouren auf keinen Fall auf ihn verzichten.
Zum Ausgangspunkt zurück: Unser Doc Wolfgang war direkt vor Ort und konnte erste Hilfe leisten. Dann stieg er mit Dirk zur Aostahütte ab. Dort fand dann ein Jahresereignis statt: Hubschrauberabtransport in die Klinik nach Aosta. Für den Hüttenwirt ein Anlaß, abends mit uns diesen denkwürdigen Tag im Gespräch noch einmal Revue passieren zu lasssen.
Übrigens war die Hubschrauberaktion kostenlos, weil ganz unbürokratisch als Übungseinsatz deklariert. Wäre so etwas in Deutschland auch möglich?
Unsere zweite Station war das Refuge du Couvercle im Mont Blanc-Gebiet. Ein Traumplatz der Alpen. Eine Aussichtslage allererster Güte, ein Ort zum Schauen und Staunen. Eine Oase für romantische Träumereien und spirituelle Meditationen. Eine Bühne für dramatische Heldenstücke, für gewaltige Gigantentaten, für erschütternde Heroenepen, für epochemachende Inszenierungen von hochberauschenden Glücksmomenten und tiefschwarzer Tragik.
Für mich steht jedenfalls fest: Wer die Couverclehütte und ihr Panorama nicht kennt, kennt die Alpen nicht. Die Aiguille Verte gilt laut Rothers Mont Blanc-Führer als der am schwierigsten zu besteigenden Viertausender der Alpen. Ich möchte relativieren: Sicher einer der heikelsten Gipfel, vor allem, was den Abstieg angeht.
Der erste Versuch endete für Wolfgang und mich noch in tiefer Nacht ca.100 m über dem schaurigschönen, überdimensionalen Bergschrund, der schon gleich eine kurze, nahezu senkrechte Passage offerierte. In dieser Nacht wurden alle Bewerber zurückgeschlagen. Der Firn war zu dieser Zeit schon durch und durch faul.
In der nächsten Nacht lassen wir uns dann nicht mehr von unserem Vorhaben abbringen. Den Col de la Grande Rocheuse erreichen wir noch recht früh. Den Gang vom Col zur Gipfelcalotte über den Ostgrat genießen wir ob der absoluten Luftigkeit und Verwächtung mit einem prickelnden Gefühl in der Magengrube.
Am Gipfel berauschen wir uns an einer herrlich-einsamen Gipfelhalbstunde. Wie schreibt doch Richard Goedeke über die Gipfelfreuden dort oben:"....und ein handverlesenes Publikum am Gipfel-sofern überhaupt jemand anderes zur gleichen Zeit da ist."
Wir lassen unseren Augen und unseren Gefühlen freien Lauf. Der Himmel ist von einer weltraumtiefen Bläue, der Schnee ist von einem weißesten Weiß, als das Licht überhaupt entfalten kann. Kein Laut dringt an unser Ohr. Da oben sind wir fast den Vögeln gleich, denen jederzeit solche Erfahrungen zugänglich sind. Aber lange können wir uns solchen Bildern nicht hingeben. Gegenüber steht der Felsturm der Grande Rocheuse, kaum niedriger als die Verte selbst. Diese "Große Felsige" steht noch als zweiter Viertausender des Tages auf dem Programm.
Es wird eine recht heikle Angelegenheit, wegen schwieriger Wegfindung, wegen teilweiser vereister Felsen. Bitterkalt ist es vor allem für die Finger im Schatten, aber Wolfgang schlägt sich durch. Das letzte Stück zum Gipfel überläßt er mir allein. Als ich mich im Reitsitz die letzten Meter auf der eisigen Messerschneide ohne Hilfe von Steigeisen, Pickel oder Skistöcken emporrobbe, fällt Wolfgang von unten die Witzfigur namens Festus aus einer Wildwestfernsehserie ein. Ich aber gebe auf diesem Gipfel lieber eine Witzfigur ab, als mich da oben heldenhaft stehend-freihändig zu präsentieren. Hier ist von erhabenen Gipfelgefühlen nun absolut keine Rede, ganz im Gegensatz zur Verte kurz vorher. Auf der Verte waren wir noch die Herrscher der Welt, auf der Rocheuse bin ich ein alpiner Ritter von der traurigen Gestalt.
Der Abstieg ist ein ständiger Kampf und Krampf unter äußerst unangenehmen Umständen. An teilweise unsicheren Fixpunkten abseilend, durch hüfttiefen Faulschnee abwärtswühlend, durch mauertiefe, wasser- und steinschlagdurchschossene Rinnen querend. Dann donnert eine von Wolfgang losgetretene Schnee- und Steinlawine in die Tiefe: Gott sei Dank ist niemand mehr unter uns!
Als ich zu Hause in der Zeitung lese, daß ein Deutscher kurz nach uns im Whymper Couloir 400 m tief zu Tode gestürzt war, kam Freude auf, nicht darüber, daß der Deutsche tot war, sondern weil es uns nicht so ergangen war.
Als wir wieder am Einstieg stehen- für den Abstieg haben wir nahezu doppelt so lange gebraucht wir für den Aufstieg - schütteln wir uns die Hände und klopfen uns gegenseitig auf die Schultern: Jetzt erst sind wir auf dem "Gipfel"!!
Und nun - ist es die Erschöpfung, der Hungerrast, die Ausgedörrtheit oder gar die Euphorie - kommen die Traumgestalten, die Bilder aus der Unterwelt. Ringsumher sehe ich schwarz auf dem weißen Schnee scharf umrissene Gestalten aus Legenden, Sagen und Märchen: Keine Produkte übersteigerter Phantasie. Und oben, gegenüber dem dunkel werdenden Himmel: Da ist der bärtige Mönch, da ist die spitze Nonne, da ist der bemützte Bischof, da ist gar der Kardinal in Form des Großinquisitors, hager thronend auf seinem Sessel. Gespenster zwischen Tag und Traum, heraufwachsend aus der hereinbrechenden Nacht, Szenen aus der spanischen Inquisition.
Kurz vor der Couvercle-Hütte dann noch ein Bild, das alle Strapazen und Gefahren tausendfach aufwiegt, ja geradezu verklärt: Der Mond über dem Walkerpfeiler der Grand Jorasses in einer unüberbietbaren farblichen und räumlichen Kompositon. Ein Bild, wie man es als Superposter in den Schaufenstern von Chamonix sehen kann und dort käuflich erwerben kann, in diesem Augenblick aber unbezahlbar ist, weil von zweidimensionalem Abklatsch in ein dreidimensionales Urbild transponiert. So monumental, so kolossal, so erdenschwer aber gleichzeitig so fern der Erde, mystisch, ein zeitloses Symbol für den Inbegriff all dessen, was den Mythos Berg umfaßt.
In diesem Moment waren alle Strapazen, Hunger, Durst, Müdigkeit vergessen, ja überreich belohnt, alle Gefahren und Risiken aufgehoben, ja überhöht.
In diesem Augenblick hätte ich auf die alte, niemals schlüssig zu beantwortende Frage, eigentlich nur subjektiv zu erwidernde Frage: "Warum geht ihr in die Berge?" geantwortet: Eben wegen solcher Eindrücke, solcher Offenbarungen, die der aufgeschlossene Bergsteiger unauslöschlich für immer in der "vierten Dimension" in der Seele tragen wird.
An dieser Stelle zitiert sich wie von selbst Eichendorff:..."Und meine Seele spannte, weit ihre Flügel aus"..
Nach dieser Seelenwanderung soll nicht verschwiegen werden, daß Christoph, Ferdi und sogar Dirk sich zwischendurch an den herrlichen Granitplatten des Moine in Hüttennähe zu schaffen machten. Granitklettereien per Excellence, die für Könner auch in Zukunft sicher verlockend sind.
Ferdi und mir macht dann das Wetter an der Droites einen Strich durch die Rechnung. Alle geben auf, selbst der unbezwingbar scheinende "Athlet" wir Ferdi ihn nannte.
Beim Abstieg von der Couvercle-Hütte geraten wir noch in eine Riesendusche des Himmels. In Chamonix dämmert dann die Erkenntnis, daß wohl die Heimfahrt die beste Lösung wäre.
Wir schütten noch die Schuhe aus, versuchen noch einiges zu trocknen. Aber nachdem sogar das Geld in der Geldbörse aufgeweicht war, wie alles andere auch, war die Luft eben raus. Unter Einsatz einiger brauner Scheine in französischer Währung, machten wir uns den Abschied von Chamonix so angenehm wir möglich.
Bad Säckingen sollte Zwischenstation auf der Heimfahrt sein. Nachdem wir vergeblich bei Hanns Hein angeklopft hatten, hinterließen wir an seiner Haustür eine Nachricht und begaben uns frohgemut unter die Penner im Stadtpark. Der Vollmond belächelte mit väterlicher Milde das Bild, als zwei müde Bergsteiger alsbald in Morpheus` Arme fielen.
Aber die Idylle dauerte nicht lange. Irgendwann hatte uns Hanns-Hein aufgestöbert und mit nach Hause genommen. Schade, dachte ich, wäre es nicht ein wunderbarer Abschluß unserer Bergtage gewesen, einmal eine Nacht mit einem Hauch von "Pennbrüderschaft" unter einem fast schon abgedroschen-romantischen Vollmondhimmel zu schlafen?
Nächstes Jahr vielleicht auf ein Neues?
Leider hat nicht jeder Tag eine Vollmondnacht und dann noch von solch absoluter Klarheit und völliger Windstille. Also doch für immer verpaßt?? Bin ich etwa mondsüchtig?
Dann aber schnell Schluß!