Womit fängt man an, wenn die Berge einen unabwendbar in ihren Bann geschlagen haben: Natürlich mit einem Viertausender. Das hört sich fast nach Blasphemie, nach Gotteslästerung, nach Ketzerei an, und die Puristen müßten jetzt weghören, das folgende Kapitel überschlagen. Wäre das nicht vergleichsweise, sicher etwas hinkend so, als würde ein Autorennfahrer sich gleich in einen Formel - 1 Boliden setzen oder ein Skispringer direkt mit der Skiflugschanze in Oberstdorf anfangen. Das denke ich allerdings nicht. Mein Motto, mit dem ich bis heute gut gefahren bin, lautete nämlich schon damals: " Du wirst mehr in den Wäldern finden als in den Büchern, Bäume und Felsen werden Dich Dinge lehren, die kein Lehrer Dir je sagen wird" (Bernhard von Clairvaux), übrigens nicht zu verwechseln mit Bernhard von Aosta, dem Schutzpatron der Bergsteiger. Bis ich diesen Wahlspruch aber so richtig in bezug auf die Berge in die Tat umsetzen konnte, mußten allerdings erst drei Jahre seit meiner ersten persönlichen Begegnung mit den Herrschern der Alpen vergehen. (s. Kapitel 1 meiner Erinnerungen im Infoheft 1/98)
Gegen Ende meiner Studienzeit in Freiburg schien mir die Zeit reif, einen Viertausender näher ins Visier zu nehmen. Irgendwo hatte ich gelesen: Der Mönch ein "leichter" Viertausender. Es folgte eine Erkundungstour per Fahrrad von Freiburg nach Grindelwald, bei der ich dort gleichzeitig Quartier für Anita und mich machte. Der nächste Schritt diente der Ausrüstungsbeschaffung. Als armer Student geschah das auf Leihbasis. Von meinem Vetter bekam ich einen sog. Tauernrucksack aus grünem Segeltuch, damals der letzte Schrei, heute höchstens noch in Japan im Gebrauch, weil diese Rucksackform breiter als hoch ist, somit eher ideal für kleinwüchsige Menschen.
Mit der Bahn ging es dann mit Anita nach Grindelwald.
Eines schönen Morgens rief der Mönch so laut zum Schlafzimmerfenster herein, daß Anita und ich nicht mehr widerstehen konnten. Da ich gehört hatte, daß Pickel und Steigeisen an solchen Bergen u. U. kein Luxus wären, lieh ich mir etwas Passendes dieser Art von Utensilien im Sportgeschäft aus.
Bei schönstem Wetter fuhren wir mit der Bahn zum Jungfraujoch hoch und überquerten den Gletscher zum Fuß des Mönch - Südostgrates. Dort blieb Anita zurück, während ich, bei starkem Gegenverkehr durch absteigende Seilschaften infolge weit fortgeschrittener Tageszeit, dem Gipfel zustrebte, völlig unbeschwert und unbelastet von jeglicher Angst und theoretischen Zwängen, wie ein Kind beispielsweise auf einen Baum klettert. Mein Auftritt rief natürlich den starken Unmut und entsprechende Kommentare der entgegenkommenden Bergführer hervor.
Aber so unbedarft wie ich damals war, konnte mich das wenig beeindrucken, vielmehr rannte ich in Rekordtempo, in nicht einmal der Hälfte der im Führer veranschlagten Zeit - auch das ein Grund zu harscher Kritik seitens der Führer dem Mönch aufs Haupt.
Dort traf ich auf drei "Grazien" etwas fortgeschrittenen Alters, ausgerüstet bis an die Zähne, die mich zunächst erstaunt musterten, war ich doch ohne Steigeisen angekommen. Ansonsten bot auch mein Outfit das typische Abbild eines Flachlandtirolers: Alte Gurken an den Füßen, darüber mausgraue Socken, eine grüne Lodenbundhose, drei Nummern zu groß, Kopfbedeckung keine. Man nimmt halt, was man geliehen bekommt. Immerhin hatte ich ein nagelneues, eigenes, rot-weiß kariertes Hemd an.
Nach kurzer Musterung und Ablichtung nahmen die Drei mich einfach unter ihre Fittiche, d.h., sie banden mich an ihr Seil, nicht ohne mir zuvor meine Steigeisen untergeschnallt zu haben. Ich selbst hätte es nicht für nötig befunden, wahrscheinlich hätte ich es auch nicht geschafft. Mir wurde eingeschärft, beim Abstieg über die Gipfelgratwächte keinen Ton von mir zu geben, da sonst die Wächte abbrechen könnte. Ich kam mir vor, wie bei den Trappisten in Mariawald. Sobald wie möglich habe ich mich abge-(nabelt)bunden, wollte ich doch nicht durch drei geteilt werden, zumal Anita wartete. Schnell war ich schon bei Anita, die dann feststellte, daß ich eine Mütze von einer der drei Grazien auf dem Kopf hatte. Die sollte wohl die ersten "zarten Bande" knüpfen. Da von den Dreien aber weder etwas zu hören noch zu sehen war, wurde die Mütze einfach deponiert und zum Jungfraujoch gegangen, um wieder zu Tal zu fahren.
Mit etwas Phantasie könnte man aus dieser Episode eine kleine Tragikomödie gestalten: Mit der passenden Bergkulisse Mönch und Jungfrau. Drei Jungfrauen besteigen den Mönch, treffen dort einen jungen Mönch aus Fleisch und Blut, den sie einzufangen versuchen. Für die drei Jungfrauen konnte es jedoch kein Happy-End geben, weil meine "Jungfrau" am Fuß des Mönchs wartete.
In Grindelwald hörten wir von unserer Ferienwohnungsvermieterin Frau Bohren, daß nach dem ersten Viertausender eine Flasche Rotwein fällig wäre, daß ich allerdings mit dem Mönch wirklich keinen Staat machen könnte. Ihre Tochter sei dieser Tage auf dem Wetterhorn gewesen: das wäre schon ein anderes Kaliber von Berg. Auch mit diesem fast vernichtenden Urteil konnte ich damals noch gut leben, und sie bekam trotzdem eine Flasche Rotwein.
Heute denke ich, eine Viertausenderbesteigung am selben Tag vom Tal aus und wieder zurück ins Tal, alles zwischen zweitem Frühstück und Five o`clock Tea wäre doch schon ganz passabel. Damals hielt ich es für eine Selbstverständlichkeit.
Heute weiß ich auch, daß dieser erste Besuch des Mönchs - es folgten in späteren Jahren noch weitere drei auf verschiedenen Routen, aber nie mehr allein - der Anfang einer herrlichen Sammelleidenschaft war: Einmal auf allen Viertausendern der Alpen gestanden zu haben. Bewußt verfolge ich dieses Ziel allerdings erst in den letzten Jahren.
Kein Gipfel macht die Sehnsucht satt, doch jeder leuchtet hell wie das gelobte Land. (O.E.Meyer)
P.S. Eine Betrachtung über die Pilgerfahrt zum Kailash, die übrigens meine Vorfreude voll bestätigt hat, folgt aus bestimmten Gründen später.