Piz Palü zum Ersten und zum Zweiten
Es ist Mittwoch der 23. März, 6:00 Uhr morgens auf der Diavolezza-Bergstation. Von Nordwest her zieht eine hohe, dichte Wolkendecke mit vereinzelten blauen Flecken auf ca. 4000 m Höhe. Aber da der Wetterbericht gegen Mittag die Auflösung der Wolkendecke vorhergesagt hat und auch der Höhenmesser seit dem Vorabend keinerlei Auffälligkeiten zeigte, ziehen wir los.
Wir, das sind Reinhard, ein entfernter Verwandter von mir, und ich. Er ist zwar mehr als doppelt so alt wie ich, aber Sportlehrer und ein sehr guter Skifahrer, allerdings mit nur geringer alpiner Erfahrung, die sich auf wenige Skitouren und Wandern beschränkt. Somit kommt mir die Aufgabe des "faktischen" Führers dieser Tour zu.
Nach einer kurzen Abfahrt in südwestlicher Richtung von der Diavolezza auf den Persgletscher hinunter, kleben wir die Felle unter die Skier, lösen die Bindung an der Ferse und steigen gegen Süden zum Palü an.
Das erste Viertel der Strecke ist der Gletscher noch recht flach und aufgrund der harten Spur kommen wir zügig voran. Nach ca. einer Stunde seilen wir uns vor dem markanten Eisbruch und zugleich ersten Steilhang an. Da recht viel Schnee liegt, kann man den Hang in Fallinie mit entsprechend vielen Spitzkehren, ersteigen und sich die sommerliche Sucherei durch das Spaltengewirr ersparen. Allerdings erfordert der harte Schnee, in dem nur noch stellenweise eine brauchbare Spur vorhanden ist, in Verbindung mit dem ca. 40° steilen Hang eine Menge Gehtechnik und Kraft, vor allem bei den Spitzkehren, bei denen der Rucksack einen immer wieder hangabwärts zieht. Hin und wieder müssen kleinere Ausrutscher akrobatisch aufgefangen werden, da wir sonst auch beide durch die Seilverbindung den Hang hinunterkugeln würden.
Nach dem ersten Steilhang führt ein größeres flaches Stück zum zweiten Aufschwung, der in der Palüscharte endet, in welcher der Ostgrat zum 3886 m hohen Ostgipfel ansetzt.
Auch dieser zweite Steilhang erfordert einiges an Konzentration und Kraft, woran auch Reinhards vorsintflutliche Felle nicht ganz unbeteiligt sind. So werden wir bald von einigen anderen Gruppen ein- und überholt, dabei demonstrieren uns drei Appenzeller gekonnte Gehtechnik. Sie ziehen wie an der Schnur gezogen, ruhig aber zügig an uns vorbei, vergleichbar einer Zahnradbahn.
Zwischenzeitlich müssen wir aber feststellen, daß der Schweizer Wetterbericht mit seiner Vorhersage:" Alpensüdseite und Engadin ziemlich sonnig ", ausgerechnet heute ziemlich daneben gegriffen hat. Statt sich aufzulösen kommen die Wolken immer tiefer, so daß man weder die Scharte auf 3760 m, geschweige denn den Ostgipfel noch erkennen kann. Der Wind frischt auch auf und so halte ich es kurz vor der Scharte für angebracht den geordneten Rückzug anzutreten, um die teils offenen Spalten im oberen Teil nicht im dichten Nebel umfahren zu müssen.
Zu dieser Zeit sind noch ca. 30 andere Alpinisten vor oder unterhalb von uns unterwegs, die es uns früher oder später gleich tun.
Durch die Wolken wird auch die Abfahrt nicht zum Vergnügen, da der Schnee stellenweise sehr schwer ist und diese Zonen durch die mangelnden Kontraste kaum erkennbar sind. Wir sind froh als wir den flachen Gletscher erreichen und über die gespurte und markierte Gletscherabfahrt von der Diavolezza über die Isla Pers und den Morteratschgletscher abfahren können, die auch dem Durchschnitts-Skifahrer einen Einblick in diese faszinierende Gletscherwelt vermittelt. Am Talbeginn erreichen wir zwar etwas enttäuscht aber wohlbehalten den Bahnhof Morteratsch.
Warum mußte der Wetterbericht ausgerechnet heute mit seiner Vorhersage so in die weiche, braune Masse greifen?
Aber dies war ja zunächst der erste Streich. Als wir die Ski auf den Wagen laden, mache ich Reinhard den Vorschlag zwei Tage später, am Freitag, eventuell einen erneuten Versuch zu starten, vorausgesetzt das Wetter spielt mit. In diesem Moment fehlt mir zwar noch völlig die Motivation, wenn ich an den erneuten Anstieg über die schwierigen Hänge und die bescheidene Abfahrt denke. Aber gleichzeitig hat man noch im Hinterkopf, daß es vermutlich die letzte Gelegenheit für mindestens ein Jahr sein wird, und außerdem denke ich wird das Ganze bei Sonnenschein wohl um einiges reizvoller sein.
Am nächsten Morgen (Donnerstag) ist natürlich herrlichstes Wetter und mit einigen bösen Verwünschungen auf den Wetterdienst stehe ich auf; aber morgen ist auch noch ein Tag.
Freitagmorgen um 645 Uhr klingelt der Wecker und auch heute verspricht der blaue Himmel einen schönen Tag. Also "müssen" wir einen zweiten Versuch starten und fahren um 815 Uhr mit der ersten Bahn zur Diavolezza-Bergstation, statt wie beim ersten Versuch am Vorabend dort zu übernachten.
Nun steht der Piz Palü im rötlichen Morgenlicht vor uns wie im Bilderbuch; strahlend weis, mit den drei mächtigen Pfeilern, die aus dem Persgletscher aufragen. Dieser überwältigende Anblick bringt den inneren Schweinehund schnell zum schweigen.
Nach der kurzen Abfahrt auf den Persgletscher hinunter steigen wir über die alte Spur erneut auf. Der Schnee ist ähnlich hart wie am Mittwoch und durch die Erkenntnis vom Mittwoch, daß wir unangeseilt gehen können und durch eine geschicktere Spurwahl, die unnötige Spitzkehren vermeidet, kommen wir zügiger voran und passieren gegen 1145 Uhr unseren Umkehrpunkt. Von dort sind es nur noch 200 flache Meter bis in die Scharte und mit jedem Schritt öffnet sich der Blick mehr und mehr nach Süden und Osten. In der Scharte angekommen eröffnet sich uns ein großartiges Panorama in alle Richtungen, außer Westen, wo der Piz Bernina uns den Blick versperrt.
Dieses Streben nach dem höchsten Punkt und die Frage, was wohl dahinter verborgen und zu entdecken ist, stellt für mich und wahrscheinlich viele Bergsteiger immer wieder einen großen Motivationsfaktor dar, um die Anstrengungen beim Bergsteigen auf sich zu nehmen. Und man weiß wieder, was einen zu diesem für andere sinnlosen Treiben bewegt.
Nach einer ausgiebigen Rast lassen wir unser gesamtes Gepäck in der Scharte zurück und steigen über den ausgesetzten Firngrat auf den Ostgipfel. Dort angekommen scheint das Panorama noch großartiger zu sein und alle Zweifel über das Gelingen der Tour sind vergessen. Für einen Gang zum Hauptgipfel reicht die Zeit leider nicht und so steigen wir wieder direkt zum Skidepot ab.
Nun beginnt für den Skitourengeher der schönste Teil der Tour, die Abfahrt. Da der Vortag recht warm und die Nacht kalt war, ist der Schnee für die Abfahrt selbst am Nachmittag noch schön hart und nur an der Oberfläche leicht angefirnt (Anm. für Laien: eine gute Kombination zum Fahren). Die Abfahrt wird zum reinsten Vergnügen.
Eine solche Abfahrt bringt mehr Befriedigung als ein ganzer Tag Pistenskilauf. Man ist "fast" allein mit sich und der Hochgebirgswelt und gerade die Fahrt entlang und durch die Gletscherbrüche ist auf jedem Meter eindrucksvoll.
Auf der Isla Pers haben uns die Zivilisation aber auch der Pistentrubel wieder und wir kommen uns mit unserem "Gerödel" etwas fehl am Platz vor. Immer wieder bei der Abfahrt fällt der Blick zurück auf den Palü und die gesamte Gletscherwelt und wir können es noch nicht richtig glauben, daß wir es doch noch geschafft haben. Nicht umsonst wird dieses Gebiet auch als "Festsaal der Alpen" bezeichnet und auch für mich gehört die eher kleine Berninagruppe zu den schönsten Gebirgsregionen die ich bisher kennengelernt habe und ich werde bestimmt noch oft dorthin zurückkehren.