Eisenwege, gut gekühlt und spannend!
Via ferrata, zu deutsch "Eisenweg", so bezeichnet man im Italienischen eine Klettersteiganlage. Einen Klettersteig, dessen Wegführung zu den wohl kühnsten im Alpenraum zählt, wollten wir, das sind Eckhard Klinkhammer und Rudi Berners, begehen.
Der erste Anlauf zur Reise nach Italien nahm für Eckhard und mich Ende März ein jähes Ende. Krankheit und ein Trauerfall verhinderten damals unsere Teilnahme an der Tour, die Bob Cranmore und Georg Schmidt zumindest schon einmal in die Nähe des "Superferrata" geführt hatte. Bob und Georg hatten wegen enormer Schneemengen den Hüttenanstieg abgebrochen und sind zu den Gardaseebergen ausgewichen. Schließlich liegt unser Ziel in Höhen zwischen 2000 und 3000m über dem Meer!
Endlich, am 24. Mai geht es los. Die Autofahrt von 1000 Km nach Madonna di Campiglio hat sich gelohnt. Bei unserer Ankunft in der Brenta-Metropole erwartet uns ein ideales Tourenwetter: nicht zu kalt, nicht zu heiß, wenig Sonne und kein Regen bei einem sanften Wind.
Brenta heißt die Gebirgsgruppe, und Kenner wissen, welchen Klettersteig wir uns vorgenommen haben: Sentiero delle Bocchette.
Bevor wir en den Aufstieg gehen sind erst noch Erkundigungen über den Zustand der Hütten einzunehmen. So früh im Jahr sind die Brentahütten noch alle unbewirtschaftet während im Sommer ein Massenandrang herrscht.
Durchs Fenster sollen wir in die Hütte steigen – die Klettersteige seien verschneit, aber für geübte Alpinisten begehbar – mit längeren Gehzeiten sollen wir rechnen: So war die Auskunft.
Den Schnee hatten wir gesehen; ab 2000m ist die Schneedecke geschlossen. In den Felswänden liegt Schnee nur auf den Bändern.
Neugierig wie Kinder steigen wir vom Parkplatz am Rifugio Vallesinella zur Cassineihütte auf. Und weiter geht es über den verschneiten Sentiero Bogani zum Rifugio dei Brentei Patria e Alberto in 2182m.
Die drei Italiener, die gerade bei unserer Ankunft das Rifugium verlassen, zeigen uns noch freundlich die Wasserstelle und steigen wieder ab ins Tal. Ob sie hier oben übernachtet hatten, wissen wir nicht, aber irgendwie spüren wir, daß es die letzte Begegnung mit anderen Menschen ist, bevor auch wir in ein paar Tagen den Abstieg ins Tal angehen. Wir richten uns zunächst einmal häuslich ein, und machen Feuer in dem kleinen Herd, der in der Hütte steht. Abends regnet es und eine sehr dunkle Nacht bricht an. "Bis zum Einstieg gehen wir morgen mal rauf..." – "Ja, und wenn es gut aussieht mit dem Schnee und das Wetter taugt, dann steigen wir ein!"
Wolkenlos und strahlend hell zeigt sich der Morgen. Wir haben keine Hast. Die Skepsis über den Schneezustand nimmt uns etwas vom Tatendrang. Aber um halb acht Uhr gehen wir los. Erst bequem über verharschten Schnee eine steile Rinne hinauf, dann anstrengend durch Bruchharsch zur Alimontahütte. Von hier aus können wir den Einstieg in der Bocca di Armi schon sehen. Die steilen Brentatürme, der unberührte Schnee und der strahlend blaue Himmel gehören heute uns ganz allein. Nirgendwo ist auch nur die Spur anderer Menschen. Wir sind froh, daß es noch nicht Sommer ist. Denn dann gibt es hier einen Menschenandrang, der sich leicht durch die Schönheit dieser Berge erklären läßt.
Am Einstieg sehen wir Leitern aus dem Schnee aufragen. Wir legen unsere Gurte an und setzen die Helme auf. "Mal sehen, wie es da oben aussieht. Umkehren können wir in den nächsten zwei Stunden immer noch." Also, auf geht’s!
Vorbei an den Leitern durch den Schnee auf das erste Felsband, einhängen an dem Stahlseil, ein Foto zur Erinnerung, so leicht ist ein Klettersteig im Schnee! Und umkehren? Warum denn!? So geht es über die Felsbänder, dann eine Rampe hinauf, bald wieder abwärts, bis wir vor einem größeren Hindernis stehen.
Eine breite Schneerinne versperrt uns den Weg. "Wo geht’s denn weiter?" Auf der anderen Seite ist keine Spur vom Weg zu sehen. Umkehren? Als die Wolke, die uns gerade noch umgab, die Sicht wieder freigibt, sehe ich einen Steinmann. Also, weiter! Mit unserem Bergseil gesichert wird die Rinne gequert.
Wenige hundert Meter weiter öffnet sich der von ganzseitigen Farbfotos in Bildbänden bekannte Brentablick: Campanile Basso oder Guglia di Brenta. Allein für diesen Eindruck lohnt sich der weite Weg. Noch ein Foto fürs Album. "Warte doch noch bis die Wolke weg ist!"
Wolken – gesehen hatten wir zwar schon einige Wolken, aber wir haben sie ignoriert. Jetzt werden es mehr. Aber es regnet nicht und wir bahnen uns weiter den Weg durch Schnee und Fels.
Umkehren? – Das Gröbste liegt hinter uns. Und auch schon mehr als die Hälfte des Weges. Es geht doch schon abwärts in die Scharte zwischen Campanile Basso und Cima Brenta Alto.
In der Scharte ist es kalt. Wir machen kurze Rast und staunen über den vielen Schnee auf unserem weiteren Weg. Wir sichern jetzt ununterbrochen mit dem Bergseil. Der Weg ist schlecht zu erkennen unter dem Schnee: und dann fängt es auch noch an zu hageln. Jetzt wird uns klar, daß das laute Grollen, das wir immer häufiger wahrnehmen, kein Steinschlag ist, sondern ein Gewitter. Wenige Minuten später sind wir mitten im Gewitter.
Umkehren? Wieder aufsteigen, den Blitzen entgegen? - Sicher nicht! Unterschlupf suchen? - Die letzte Nische liegt schon weit hinter uns. Wir sind aktionsfähig; je länger wir warten, um so mehr Schnee liegt auf dem Weg; Der Steig führt nur noch abwärts und nicht zuletzt: Die Blitze schlagen wegen der Steilheit der Berge viel weiter oben ein. Also, gehen wir weiter und als sich nach zwei Stunden das Gewitter verzieht, wissen wir, daß wir richtig handeln.
Der letzte Teil des Klettersteiges ist nochmals Genuß pur. Ein schmales Band, fast ohne Schnee und jetzt auch wieder mit Sonne, führt bis zum Ausstieg. Dann geht es nochmals über eine Leiter abwärts auf den Gletscher des Falle Brentei alte. Durch den aufgeweichten Schnee erreichen wir ziemlich müde abends um halb neun die Brenteihütte. Und pünktlich mit dem Schließen des Hüttenfensters fängt es an zu regnen.
Wirklich eine " Superferrata", aber der Schnee und das Gewitter haben die Eindrücke noch verstärkt. Da wir keinen Hinweis auf eine Begehung in diesem Jahr gefunden haben, nehmen wir an, die Wegeröffnung 1989 gemacht zu haben. Noch einen Klettersteig in der Brenta wollen wir nicht gehen. Wir wissen ja jetzt, wie eine Ferrata im Schnee aussieht. Außerdem regnet es. Wir werden also wie Bob und Georg vor uns auch ausweichen in die Gardaseeberge, wo die Sonne scheint und es warm ist.
Am nächsten Tag sind wir schon in Sarche am Toblinosee. Warm ist es, – schwülwarm. Ein Gewitter liegt in der Luft. Und deshalb lassen wir uns Zeit und genießen die Annehmlichkeiten des Landes. Frisches Obst und ein gemütlicher Nachmittag sind eine willkommen Abwechslung. Wir fahren noch nach Ranzo um dort unser Zelt aufzuschlagen. Unsanft müssen wir feststellen, daß der Vorplatz einer kleinen Kapelle als Schlafunterlage doch ein wenig härter ist als eine Matratze im Winterraum einer Alpenvereinshütte.
Morgens geht es durch den Wald hinab zum Einstieg eines besonderen Klettersteiges: Via attrezzata Rino Pisetta am Dain Picol.
Eine Kletterroute im IV. und V. Schwierigkeitsgrad wurde hier mit einem durchlaufenden Drahtseil gesichert. 400 Höhenmeter sind hier zu bewältigen, und das in einer Ausgesetztheit, die wohl so manchem das Herz in die Hose rutschen läßt. Nach den ersten 30 Metern gibt es deshalb einen Notausstieg. Uns rinnt der Schweiß über die Stirn. Das liegt aber nicht an den Schwierigkeiten des Weges, wie man meinen könnte, sondern an der jetzt am frühen Morgen schon wieder schwülen Luft. Wer den Bocchette Centrale im Schnee geht, der läßt sich durch den Rino Pisetta nicht beeindrucken! Nach anderthalb Stunden sind wir oben. Schade, aber wir wären gerne weiter gestiegen.
Den Titel der Reiseerinnerung kann man wörtlich nehmen. Schnee und Hagel, Gewitter und Ausgesetztheit sind gemeint.
Wir treten die Heimreise an. Man könnte zwar trotz der gewittrigen Luft weitere Touren machen, aber eine Steigerung ist nicht mehr möglich. So endet unsere Wochenendreise. Es ist ein weiter Weg nach Italien, aber für uns hat er sich gelohnt.
Wir können die Brenta empfehlen. Vielleicht auch etwas weniger gekühlt und weniger spannend im Sommer?